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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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bleibt.
    Nicht jeder Weiße, mit dem sie zu tun haben, ist ein hoffnungsloser Fall. Die Kollegen ihres Mannes, allesamt Ausländer, finden sie nicht störender als jede andere Ehefrau auch. Ihnen sind schon exotischere, dubiosere Paare untergekommen. Diejenigen, die ein Instrument spielen, kommen zum gemeinsamen Musizieren zu ihnen ins Haus, und ihnen ist jede Tonart recht. In der Gegenwart dieser Menschen kann sie aufatmen. Sie starren sie nicht an und warten, wie lange sie sich noch auf den Hinterbeinen halten kann. Aber diese Leute sind nicht ganz von dieser Welt. Sie leben tief im Inneren des Atoms oder oben in den unendlichen Weiten der Galaxien. Menschen sind für sie nur Komplikationen, die sich nicht auf Formeln reduzieren lassen. Die meisten von ihnen sind Flüchtlinge, die froh sein können, dass sie noch am Leben sind. Jeder Zweite ein Vertriebener: Polen, Tschechen, Dänen, Russen, Deutsche, Österreicher, Ungarn. Mehr Ungarn als Delia je zuvor irgendwo gesehen hat. Eine große selbst geschaffene Nation der Entwurzelten, die meisten von ihnen Juden. Wo könnte dies Grüppchen Unglücklicher anders leben als da, wo auch ihr David lebt – in dem grenzenlosen Staat, der keine Pässe kannte, im Land der Teilchen und der Zahlen?
    Da ist Mr. Rabi, der David seine Anstellung verschafft hat und der, sagt David, Columbia noch in einen Vorort von Stockholm verwandeln wird. Da sind Mr. Bethe, Mr. Pauli, Mr. von Neumann – ein verrücktes Trio, einer seltsamer als der andere. Und Mr. Leo Szilard, der vielleicht wirklich wahnsinnig ist, der nicht mehr unterrichtet, sondern im King's Crown aus dem Koffer lebt, dem Hotel, in dem auch David abgestiegen war, als er ins Land kam. Mr. Teller mit seinen buschigen Augenbrauen, der so wunderbar Bach spielt, so jemand muss doch ein guter Mensch sein. Mr. Fermi mit seiner Frau, der schönen, schwarzhaarigen Laura, Fermi, der in Schweden seinen Nobelpreis entgegengenommen und sich auf dem Rückweg ins faschistische Italien nach Columbia verirrt hatte, ein weiterer geschätzter Kollege ihres Mannes.
    Monatelang fürchtete Delia sich vor diesen Leuten und ging ihnen am liebsten aus dem Weg. Sie reichte ihnen die Hand, murmelte einfältige Dinge, während sie sie musterten, und versuchte vergebens zu verstehen, was sie als Antwort murmelten. Den ersten musikalischen Abend in ihrem Haus verbrachte Delia fast ganz in der Küche, verbarg sich hinter verschlossenen Türen bei erfundenen Arbeiten, und die Männer fachsimpelten derweil über Dinge, die ihre Mutter als Teufelswerk beschimpft hätte. Sie ließ Töpfe und Pfannen scheppern – ganz die Küchenhilfe, bis ein Quartett hereingestürmt kam, die Jacken voller Weinflecken und Kräckerkrümel, und sie holte: »Kommen Sie, die Musik beginnt.«
    Heute tun sie ihr nur noch Leid, Männer, die sich dafür entschuldigen, dass sie einen Schritt durchs Zimmer gehen, Männer – wie dieser Mr. Wigner aus Princeton –, bei denen jede Bewegung ein Angehen gegen Geheimnisse ist, die sie nicht begreifen. Wie David ihr manchmal sagt, wenn sie im Dunkeln liegen, aneinander geschmiegt: »Je näher man hinsieht, desto weniger erkennt man den göttlichen Plan. An den Rändern des menschlichen Maßes ist es unendlich fremd.« Wer sein Zelt an einem so fremden Ort aufschlug, der musste mit Ungewohntem rechnen.
    Das Grüppchen von Exilwissenschaftlern geht herzlich mit ihr um, eine Ungezwungenheit, die sie nicht zuletzt ihrer Ahnungslosigkeit verdanken. Diese Leute drückt nicht die Bürde des alten Verbrechens, die auf dem Land, in dem sie nun wohnen, lastet. Sie schrecken nicht automatisch zurück, wenn sie sie sehen. Sie brauchen sich vor ihr nicht zu rechtfertigen. In gewisser Weise teilen sie das stillschweigende Exil mit ihr. Und doch tragen auch diese entwurzelten Europäer die Krankheit in sich. Empiriker und Skeptiker einer wie der andere, führen sie ganz automatisch ihre Statistik bei allem, was ihnen begegnet, unsichtbar und doch vom Augenschein geleitet, von dem universalen Urteil, das so tief in ihnen steckt, dass sie gar nicht mehr merken, dass es ein erworbenes ist. Jeder von ihnen ist schockiert, als er sie zum ersten Mal singen hört.
    Und was, wenn sie Recht haben ? Wenn sie tatsächlich ist wie eine Forelle, der plötzlich Flügel wachsen? Zwanzig Generationen, und der Unterschied wird zur Tatsache. Das ist, was die Seelen zerstört, das eine, woran niemand vorbeikann. Kein Tag vergeht, an dem sie sich nicht für die Lieder

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