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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Geht ihr aus dem Wege, dann macht sie euch auch keine Vorwürfe. Mehr will sie ja nicht. Habt ihr vergessen, was Mama uns immer eingeschärft hat? ›Ihr könnt alles sein, was ihr sein wollt.‹« Ich hörte, wie verraten er sich fühlte.
    »Eure Schwester will etwas anderes. Sie hat mir ins Gesicht gesagt, dass eure Mutter gestorben ist ... weil sie mich geheiratet hat.«
    Ich knallte meine Gabel auf den Teller, dass der Eintopf nur so spritzte. »Himmel nochmal! Was denkt sich diese ...«
    Pa redete weiter, als hielte er Selbstgespräche. »Habe ich denn mein ganzes Leben in einem schrecklichen Irrtum verbracht? War es unrecht von eurer Mutter und mir, dass wir euch in die Welt gesetzt haben?«
    Jonah versuchte zu scherzen. »Also, um ehrlich zu sein, Pa – ja. Ich finde, wir hätten andere Eltern verdient.«
    Pa sagte nur: »Wer weiß. Wer weiß.«
    Hastig und schweigend aßen wir zu Ende. Jonah und ich spülten in aller Eile das Geschirr, und Pa stand dabei und fuchtelte mit den Armen. Wir redeten ein wenig über unsere bevorstehenden Konzerte. Jonah erzählte Pa, im folgenden Frühjahr wolle er sich an der Met bewerben. Das hörte ich zum ersten Mal. Aber er verließ sich ja immer darauf, dass sein Begleiter seine Gedanken las.
    Erst als wir uns zum Gehen anschickten, kamen wir wieder auf Ruth. »Gib uns Bescheid, wenn du von ihr hörst«, sagte Jonah. Er gab sich Mühe, nicht zu eifrig zu klingen. »Glaub mir. Sie taucht wieder auf. Leute brechen nicht einfach so mit ihrem Fleisch und Blut.« Jonah wusste genau, was er sagte. Aber er zuckte mit keiner Wimper. Er war als Schauspieler genauso perfekt wie als Sänger. Mein Bruder war bereit für jede Rolle, die er sich aussuchte.
    Als wir unsere Mäntel anzogen, hielt Pa es nicht mehr aus. »Ach Jungs. Meine Jungs.« Und selbst nach so vielen Jahren in seinem neuen Land reimte boys sich noch auf choice. »Bleibt doch hier, die eine Nacht. Bitte. Es ist so viel Platz hier. Und es muss doch schon viel zu spät für die Zugfahrt sein.«
    Ich warf einen Blick auf die Uhr. Viertel nach neun. Jonah wollte gehen. Ich war dafür, dass wir blieben. Wir hatten zwei Auftritte in der kommenden Woche und noch längst nicht genug dafür geprobt. Aber ich gab nicht nach, und allein wollte Jonah auch nicht zurückfahren. Pa machte Jonah ein Lager auf dem Sofa im Wohnzimmer und mir eines im Arbeitszimmer. Er wollte nicht, dass einer von uns in Ruths Zimmer schlief. Man wusste ja nie, ob das Mädchen nicht mitten in der Nacht nach Hause kam.
    Ich wachte im Dunkeln auf. Es war jemand im Haus. In meinem schlaftrunkenen Zustand malte ich mir aus, wie die Polizei sich Zugang verschafft hatte, auf einen Hinweis, es hielten sich Illegale hier versteckt. Dann hörte es sich an, als spräche jemand, gedämpfte Stimmen, Leute, die am frühen Morgen ihre Pläne für den Tag besprachen. Dann dachte ich, es sei das Radio, ein Sprecher mit leichtem Akzent. Es war der Ak-zent meines Vaters, und mit einem Male war ich hellwach. Pa sprach auf der anderen Seite der Wand mit jemandem, in der Küche, zehn Schritt von mir. Ein bernsteinfarbener Lichtschein drang durch die Ritze unter meiner Tür. Einen Moment lang kam es mir vor, als belauschten Jonah und ich wieder unsere Eltern, wie sie in der alten Küche in Hamilton Heights miteinander flüsterten, am Abend des Tages, an dem Jonahs erste Internatsbewerbung ohne Angabe von Gründen abgelehnt worden war. Jetzt flüsterte mein Vater mit seinem Erstgeborenen, und ich horchte allein. Ich stellte mir Pa und Jonah vor, beide über den Frühstückstisch gebeugt, so nahe, dass ihre Köpfe sich fast berührten. Obwohl ich staunte. Sonst brachte man meinen Bruder am Morgen nur mit roher Gewalt aus dem Bett. Ich blickte zum Fenster: noch stockdunkel. Die beiden saßen nicht beim Frühstück, sie waren gar nicht zu Bett gegangen. Stillschweigend mussten sie sich einig gewesen sein, dass sie mich auf mein Zimmer schickten und dann miteinander redeten, etwas Persönliches, das nicht für meine Ohren bestimmt war.
    Ich lauschte. Pa rechtfertigte sich. »Wie kann das sein – dass es wichtiger ist als die Familie?« Ich lag da, wartete auf Jonahs Antwort, aber es kam keine. Nach einer Weile sprach Pa wieder. »Das kann nicht wichtiger als die Familie sein. Es kann nicht wichtiger sein als die Zeit. Ich hätte ihr erklären können, was wir gesehen haben. Hätte ich ihr von dem Kind erzählen sollen?« Ich hatte keine Ahnung wovon er sprach. Wieder wartete ich

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