Der Klang der Zeit
auf Jonahs Antwort und wieder hörte ich nichts. Er war vollkommen hilflos ohne mich.
Dann ein Laut, schrill, gespenstisch. Um drei Uhr morgens hört sich jeder Laut gespenstisch an. Es dauerte ein paar Sekunden, bis mir aufging, was das war: Pa lachte. Oder nein, kein Lachen. Unser Vater schluchzte, und noch immer sagte Jonah kein Wort. Immer weiter spitzte ich die Ohren, bis ich begriff: Jonah war gar nicht da. Nur ein einzelnes Paar Pantoffeln hörte man schlurfen. Nur einen Löffel in einer einzelnen Tasse, nur einen Atem. Pa war allein in seiner Küche, mitten in der Nacht – die wie vielte einsame Nacht mochte es sein? – und redete mit sich selbst.
Er sagte: »Ich habe das nicht ahnen können. Ich hätte nie gedacht, dass es so kommt.« Und dann: »War es denn ein Fehler? Haben wir alles falsch gemacht?«
Ich lag wie erstarrt auf meiner Matratze. Es gab nur eine, mit der er so reden konnte. Und diese eine konnte nicht mehr antworten. Ich wollte die Tür aufreißen, aber ich zwang mich still zu halten. Was immer ich dort draußen gesehen hätte, hätte mich umgebracht. Ich konnte nur daliegen in meinem improvisierten Bett, wagte kaum noch zu atmen, horchte verzweifelt, ob er nicht doch eine Antwort bekam. Nach einer Weile änderte sich sein Ton. Er klang weniger gequält, fast glücklich. »Ja«, sagte er, »da hast du Recht.« Und mit einer Stimme, die in ihrer Er-leichterung entsetzlich klang. »Ja. Das könnte ich nie vergessen.« Ich hörte, wie er aufstand und etwas ins Spülbecken räumte. Eine Weile stand er lautlos da, blickte gewiss zum Fenster über der Spüle hinaus in die Nacht. Dann ein tiefer Seufzer. »Aber unser kleines Mädchen.« Dies-mal wartete er nicht auf eine Antwort, sondern schlurfte den Flur hinun-ter und verschwand in seinem Zimmer.
Ich konnte nicht mehr einschlafen. Schließlich zog ich mich an und ging selbst in die Küche, die ich nun mit ganz neuen Augen sah. Im Spülstein stand Geschirr, von allem zwei: Zwei Tassen, zwei Untertassen, zwei Löffel.
Auf der ganzen Busfahrt zurück in die Stadt saß ich neben Jonah, sehnte mich danach, ihn zu fragen, ob er es auch gehört hatte, und wollte es doch nicht tun, für den Fall dass er nichts bemerkt hatte. Unser Vater unterhielt sich mit einem Geist. Stellte ihr Teetassen hin. Vielleicht redete er jeden Abend mit ihr, wenn wir nicht da waren, als könnten sie sich auch jetzt noch erzählen, was sie den Tag über erlebt hatten. Solange Jonah und ich nicht davon sprachen, konnte ich mir immer noch vorstellen, ich hätte mir das alles nur eingebildet. Als wir am Port Au-thority ausstiegen, sagte Jonah: »Er wird nichts mehr von ihr hören.« Und erst als er hinzufügte: »Sie könnte genauso gut tot sein«, begriff ich, dass er Ruth meinte.
Wenn Ruth mit uns reden wollte, musste sie zu uns kommen. Was immer Pa ihr in ihrer Phantasie angetan hatte, hatte er auch uns angetan. Erst jetzt wurde mir wirklich klar, wie weit die Kluft zwischen uns in den letzten drei Jahren geworden war, die drei Jahre, die Jonah und ich nun schon auf Konzertreisen waren. Ich hatte ja so gut wie nie angerufen, gerade einmal an Geburtstagen und Feiertagen. Aber auch wenn ich es selten tat, hatte ich Ruth doch immer erreichen können. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie uns wirklich verstoßen wollte. Aber mit jedem Tag, den der Kontakt abgerissen blieb, wurde mir klarer, wie sehr ich sie enttäuscht hatte, einfach nur durch das Leben, das ich führte.
Wochen vergingen, und wir hörten nichts von ihr. Ich malte mir aus, dass sie in Schwierigkeiten war. Jeden Tag standen Dinge in der Zeitung. Am laufenden Band wurden Leute ins Gefängnis geworfen, weil sie Reden gehalten hatten, Versammlungen einberufen, Flugblätter ge-druckt – all die Dinge, die Ruth mit solcher Begeisterung tat, seit sie aufs College gegangen war. In meinen Albträumen sah ich sie in einem Verlies tief unter der Erde, und die Wachen verweigerten mir den Zutritt, weil mein Name nicht auf der Liste stand.
Jonah ging zu seinem Vorsingen an der Met. Wieder sollte ich für ihn spielen, scheppernde Klavierauszüge der Orchesterbegleitung. Ich kam mir vor wie ein italienischer Drehorgelspieler. »Du erwartest also, dass ich dir bei etwas helfe, was mich arbeitslos macht?«
»Wenn ich bei dem Laden unter Vertrag bin, Muli, machen wir einen anständigen Menschen aus dir.«
»Und jetzt verrate mir noch einmal, warum du da hinwillst.« Seine Stimme war leicht, hell, schwerelos, sie hatte
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