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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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nichts Massiges, nichts Theatralisches. Er sang Lieder, als flüstere ihm Apollo im Fluge ins Ohr. Dass er zur Oper wollte, schien mir pervers. Als zwänge man ein prachtvolles Rennpferd in eine Rüstung, damit es auf einem Ritterturnier antrat. Ganz abgesehen davon, dass er seit Jahren keine Opernrollen mehr einstudiert hatte.
    »Machst du Witze, Muli? Das ist der Mount Everest.«
    Was so viel bedeutete wie hoch oben, weiß und kalt. Allerdings war es eine feste Anstellung. Überall auf unseren Konzertreisen hatten wir die Herzen gebrochen, seit Jahren, wir hatten das Versicherungsgeld unserer Mutter durchgebracht. Vielleicht hatte er Recht. Vielleicht wurde es Zeit, dass wir sesshafter wurden.
    Jonah hatte sich wohl ausgemalt, dass er für Mr. Bing höchstpersönlich sänge. Aber Sir Rudolph hatte anderes zu tun an dem Tag, an dem Jonah zur Feuerprobe antrat. Allerdings hatte sein alter Lehrer Peter Grau den Prüfern einen Tipp gegeben, und so hörten sie bei ihm besonders auf-merksam zu. Jonah verbrachte fast einen ganzen Nachmittag damit, dass er von einem unerbittlichen Ohrenpaar zum nächsten weitergereicht wurde, sang im Labyrinth des neuen Lincoln Center in Räumen, die wie eine Turnhalle hallten, und anderen, die so knochentrocken waren, dass der Ton einfach verschwand. Manchmal begleitete ich ihn, manchmal sang er a cappella. Sie ließen ihn die ganze Skala des Repertoires vom Blatt singen. Und bei alldem saß ich an den Tasten und wusste, dass ich, wenn ich nur gut genug spielte, meinen Bruder nie wieder auf dem Klavier begleiten würde.
    Ich spielte gut. Aber nicht so gut wie mein Bruder sang. An diesem Nachmittag klang er, als hätte er das letzte halbe Jahr, das wir auf Tournee waren, nur auf diesen einen Augenblick hingearbeitet. Er tat mehr, um diese Prüfer zu überzeugen, als er für ganze Konzertsäle voller Men-schen in Seattle und San Francisco getan hatte. Er brachte die vollkommensten Töne hervor, zu denen er überhaupt fähig war. Die übersättigten New Yorker wanden sich, taten, als sei es eine Zumutung für ihre Ohren. Immer wieder fragten sie, wo er bisher gesungen habe, unter wem. Immer wieder fielen sie aus allen Wolken bei der Antwort: »Sie haben noch nie ein Chorsolo gesungen? Noch nie mit Orchesterbegleitung?«
    Wahrscheinlich wäre es klug gewesen, der Wahrheit ein wenig nachzuhelfen, aber Jonah konnte nicht anders. »Nicht seit meiner Kindheit«, gab er zu.
    Sie ließen ihn Mozart singen, Arien aus Da-Ponte-Opern. Er versetzte sich in die Rollen, als wäre nichts dabei. Sie gaben ihm Schmachtfetzen von Puccini. Er brachte frischen Wind hinein. Sie wussten nicht, in welche Nische sie ihn stecken sollten, und reichten ihn an den Programmdirektor weiter, Crispin Linwell. Linwell betrachtete meinen Bruder, wie ein Mann einen Zeitschriftenständer mustern würde, breitbeinig, in schwarzen Schnürschuhen, die Hornbrille in die Stirn geschoben, die Ärmel seines Pullovers um den Hals geknotet. Er ließ Jonah die ersten Noten von »Auf Ewigkeit« aus Parsifal singen, brach aber schon nach wenigen Takten ab. Er schickte Assistenten auf einen Feldzug nach oben, wo sie eine seiner liebsten Sopranistinnen, Gina Hills, aus einer hoch wichtigen Probe entführten. Die Frau kam, laut fluchend. Crispin Linwell beschwichtigte sie. »Meine Liebe, wir brauchen Sie für ein ganz besonderes Experiment.«
    Miss Hills wurde ein wenig sanfter, als sie erfuhr, dass es bei dem Experiment um das erste Liebesduett aus dem zweiten Akt des Tristan ging. Isolde war eine Traumrolle, und sie glaubte, bei dem Vorsingen gehe es um sie. Linwell bestand darauf, dass er selbst den Klavierpart übernahm. Er legte ein leidenschaftliches Tempo vor, und dann ließ er die beiden aufeinander los.
    Natürlich hatte mein Bruder diese Partitur schon häufiger angesehen. Vom Hören kannte er die Szene seit einem Jahrzehnt. Aber er hatte noch nie auch nur eine Note davon gesungen, höchstens im Unterricht oder unter der Dusche. Und noch kritischer war, dass er schon seit Ewigkei-ten nicht mehr mit jemand anderem zusammen gesungen hatte. Als Mr. Linwell sein Experiment ankündigte, wusste ich, das Spiel war aus. Er wollte Jonah bloßstellen, wollte zeigen, dass er einfach nur eine hübsche Stimme hatte, aber unfähig war, im Ensemble zu singen. Nur einer von vielen allzu ehrgeizigen Konzertsängern, die bei dem Versuch strau-chelten, den Sprung auf die Opernbühne zu schaffen.
    Nach etwa zwei Minuten ging es Miss Hills auf, dass

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