Der Klang der Zeit
sie gerade eine Liebesszene mit einem Schwarzen spielte. Die Erkenntnis durchzuckte ihren Körper im Rhythmus der Töne. Ich sah mit an, wie die Verunsicherung sich in Abscheu verwandelte, als sie überlegte, warum man sie in diese Falle gelockt hatte. Sie verpasste einen Einsatz, und einen Moment lang kamen alle ins Stocken; ich rechnete fest damit, dass sie schreiend aus dem Raum laufen würde. Nur der Gedanke an ihre Karriere hielt sie fest.
Dann tat der alte, melodische Liebestrank wieder neu seine Wirkung. Töne kamen aus der Kehle meines Bruders, wie ich sie noch nie von ihm gehört hatte. Acht Takte, dann schmolz Gina Hills dahin. Sie war nicht unansehnlich, aber doch von der kräftigen Statur einer Opernsängerin. Ihr Gesicht war wie ihre Stimme: Am besten kamen sie aus mittlerer Entfernung zur Geltung. Aber mein Bruder machte eine Aphrodite aus ihr. Die ganze Kraft seines Gesanges übertrug er auf sie, und sie nahm die Gabe an. Der Sog seiner Melodien schlug sie in den Bann. Als sie zu singen begannen, standen sie fünf Schritt voneinander, zwischen ihnen das Klavier. Vier Minuten später sahen sie sich tatsächlich an, umtän-zelten einander. Zwar berührte sie ihn nicht, aber sie streckte die Hand aus, als sei sie im Begriff, es zu tun. Er war nicht bereit, diese letzte Kluft zwischen ihnen zu überbrücken, die doch die Musik so unmissver-ständlich leugnete. Das seltsame Gefühl, vor einer Hand voll von Zuhö-rern das letzte große Tabu zur Schau zu stellen, schürte nur noch das Feuer ihrer Stimme.
Am Anfang hatte Jonah die Partitur in der Hand gehabt, doch als sie sich zu ihrem Duett erhoben, warf er nur noch ab und zu einen Blick aufs Blatt und legte es schließlich ganz beiseite. Gina Hills sang einen hohen, lang anhaltenden Ton, das Gesicht hochrot von der Anstrengung. Jonah steigerte sich immer weiter, Welle um Welle, bis das Grüppchen Zuhörer vergessen war und nur noch Mann und Frau blieben, nackt, verklärt, ihre Erregung die sublimste Form der Sehnsucht, die es für einen Menschenleib gab. Das war im Jahr 1967, dem Jahr, in dem der Oberste Gerichtshof auch in dem Drittel der Vereinigten Staaten, in dem es noch unter Strafe stand, für Jonah das Recht durchsetzte, eine Frau von der Hautfarbe Isoldes zu heiraten, eine Frau von unseres Vaters Rasse.
Linwell ließ die Darbietung mit einem Glissando ausklingen, erhob sich vom Klavier und spreizte die Finger. »Alle Achtung. So, Leute. Entwarnung. Alle Mann zurück ins richtige Leben.« Jetzt wo die Arie vorüber war, sah Gina Hills – ihre persönliche Variante der »Reise nach Je-rusalem« – meinen Bruder nicht mehr an. Linwell fasste sie an den Schultern. »Das war nicht von dieser Welt, meine Liebe.« Miss Hills sah ihn an, glühend, ehrfürchtig. Diese Rolle war ihr wichtiger als alles andere. Zehn Minuten lang hatte sie darin gelebt, hatte den uralten Drogenrausch am eigenen Leib gespürt. Sie schwankte, noch ganz unter seinem Einfluss. Linwell hätte ihr eine Premiere gleich in der folgenden Spielzeit versprechen können, und trotzdem wäre sie benommen von dannen gewankt.
Als die Nebel sich verzogen, kehrte Linwell zu uns zurück. Seine englischen Augen fixierten mich; er überlegte wohl, ob er es riskieren konnte, mich zum Warten nach draußen zu schicken. Aber ich durfte bleiben. Er wandte sich meinem Bruder zu. »Was machen wir nun mit Ihnen ?«Jonah hatte da schon ein oder zwei Ideen, aber er behielt sie für sich. Linwell schüttelte den Kopf und studierte das Blatt mit den Notizen des Nachmittags. Ich sah ihm an, was ihm durch den Kopf ging: War es noch zu früh? Würde es immerzu früh sein, auf der Bühne eines solchen Landes?
Er legte das Gekritzel beiseite und sah meinem Bruder ins Gesicht. »Ich habe natürlich von Ihnen gehört.« Wie bei einem Polizeiverhör. Lügen sind zwecklos, mein Junge. Wir wissen alles über dich. »Ich dachte, Sie sind Liedsänger. Oder nicht einmal das. Wie ich höre, singen Sie Dowland.« Es klang angewidert.
»Das tue ich.« Ich. So sagte er es. Ich war zur Adoption freigegeben, an die erste Familie, die mich haben wollte.
Linwell saß schweigend da, kämpfte mit seiner Verlegenheit. »Wäre es ...« hob er an. Er wollte uns um einen Gefallen bitten. »Würden Sie ...« Er wies auf das Klavier. Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff. Er glaubte uns nicht. Er wollte den Beweis.
Jonah und ich nahmen mit solcher Routine unsere Startposition ein, ich hätte mich beinahe
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