Der Klang der Zeit
verneigt, so sehr war es zur Gewohnheit geworden. Er sah mich an, holte Luft, hob sich kaum merklich, und mit dem Taktschlag setzten wir gemeinsam an zu »Time Stands Still«. Als es verklang, herrschte die Stille, die das Lied beschwor. Ich fuhr zärtlich über den Klavierdeckel und sah Crispin Linwell an. Er hatte Tränen in den Augen. Dieser Mann, der schon länger, als ich auf der Welt war, keine Musik mehr zu seinem Vergnügen gehört hatte, erinnerte sich drei Minuten lang, von wo er kam.
»Warum sollte ein Mensch so etwas aufgeben?«
Jonah blinzelte; überlegte, wie ernst die Frage gemeint war. Er hätte einfach nur gelächelt, aber Mr. Linwell wartete auf eine Antwort. Ich persönlich konnte mir für jemanden, der mit dem Talent meines Bruders geboren war, jemanden, der ein kleines Eckchen Ewigkeit herunter auf die Erde holen konnte und das nun alles fortwerfen wollte für ein aufgeblasenes, vulgäres Spektakel, nur eine einzige Antwort vorstellen: Ihr Jungs, ihr könnt alles sein, was ihr sein wollt.
Jonah stand ans Klavier gelehnt und fuhr sich mit der Hand über den Nacken. Seine Augenbrauen spielten mit der Frage, noch immer unschuldig. »Ach, wissen Sie.« Ich kauerte mich auf meinen Klavierhocker. »Es macht einfach mehr Spaß, wenn man mit anderen singt.« Er wählte seinen tiefsten basso profundo. »Ahm-atarred of livin'alone.« Ich habe das Alleinsein satt.
Crispin Linwell lachte nicht. Er lächelte nicht einmal. Er schüttelte nur den Kopf. »Seien Sie vorsichtig. Manche Wünsche werden wahr.« Er schob sich die Brille wieder auf die Nase und trommelte mit dem Blei-stift auf die Klammer seines Schreibbretts, ein mechanischer Rhythmus, wie das Pochen eines Motors. Sein Körper spannte sich, er war wieder ganz Profi. »Wir werden etwas für Sie finden. Sie werden mit uns singen. Mit ... anderen. Haben wir die Nummer Ihres Agenten? ... Schön. Sagen Sie ihm, ich melde mich.« Er reichte uns beiden die Hand, das Vorsingen war beendet. Aber bevor wir gehen konnten, legte er Jonah noch die Hand auf die Schulter. Ich wusste, was er sagen würde, schon bevor er Atem dazu holte. Ich hatte es so oft gehört, ganze Leben weit zurück, obwohl es damals immer in der Mehrzahl gewesen war. »Mr. Strom, Sie sind einzigartig.«
Draußen auf dem Broadway, in der Spätwinterluft, johlte Jonah wie eine Wetterhexe. »›Einzigartig‹, Muli. ›Ich melde mich.‹«
»Freut mich für dich«, sagte ich.
Den ganzen Frühling hindurch warteten wir auf diesen Anruf. Mr. Weisman bot Festivals, Wettbewerbe, Konzertreisen – Wolf Trap, Blossom, Aspen –, aber von der Met kam nichts. Als Jonah Mr. Weisman drängte, in Linwells Büro nachzuhören, lachte unser Agent nur. »Die Mühlen der Oper mahlen entsetzlich langsam, und nicht gerade fein. Die melden sich schon noch. Und bis dahin sucht euch etwas Vernünftigeres zum Sorgenmachen.«
Immerhin rief Weismann Anfang des Sommers mit Neuigkeiten von Harmondial an. Mit zwar nicht hohen, aber doch gleichmäßigen Verkäu-fen war unsere erste Aufnahme in die Gewinnzone gekommen. Inzwischen war zum vierten Mal nachgepresst worden. Ein Tantiemen-scheck war in der Post, nicht genug für die Telefonrechnung, aber doch Geld auf die Hand. Harmondial wollte mit uns über ein neues Projekt reden, und Jonah erklärte sich am Telefon pauschal einverstanden. Zwei Tage darauf stand die Innenstadt von Newark in Flammen, eine betriebsame Stadt nur ein paar Zugminuten von unserer Wohnung: Stand in Flammen wie die Viertel von Hanoi, auf die Johnson seine Bomben warf. Das war im Juli. Detroit folgte in der Woche darauf. Einundvierzig Tote und vierzehn Quadratmeilen Schutt und Asche.
Ich war in Panik. »Wir können diese Platte nicht machen, Jonah. Sag ihnen, wir steigen aus.«
»Jetzt aber halblang, Muli. Unser Publikum braucht uns.« Er packte mich bei den Schultern und schüttelte mich, wie im Slapstick. »Was hast du denn plötzlich? Du verlierst doch nicht die Nerven? Angst vor ein klein wenig Ewigkeit? Dass die Leute dich noch hören, wenn du schon tot bist? Wir schneiden deine Patzer einfach raus.«
»Darum geht es nicht.«
»Worum dann?«
»Sag ihnen, wir können nicht. Sie sollen ... eine Weile warten.«
Er lachte. »Das geht nicht, Jonah. Es ist alles abgesprochen. Mündlich, aber für mich bist du gefesselt und geknebelt. Du bist nicht mehr dein eigener Herr, Bruder.«
»War ich das je ?« Es kam nicht oft vor, dass er als Erster den Blick abwandte.
Um die Zeit, als Jonah
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