Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
Vom Netzwerk:
mit den Vorbereitungen für die zweite Platte begann, terrorisierte uns jemand am Telefon. Jonah sprintete zum Apparat, im Glauben es sei Weisman oder Harmondial oder gar Crispin Linwell. Aber sobald er sich meldete, wurde am anderen Ende aufgelegt. Er hatte so viele Theorien wie es Komparsenrollen in Aida gab. Er über-legte sogar, ob es Gina Hills sein konnte. Eines Nachmittags im August klingelte es wieder, und ich war allein zu Haus. Jonah war in der Universität, wo er in einem Probenraum Stimmübungen machte. Ich nahm ab, und eine Stimme, die mir vertrauter war als meine eigene, fragte: »Bist du allein?«
    »Ruthie! Liebe Güte, Ruthie, wo steckst du?«
    »Keine Sorge, Joey. Alles in Ordnung. Mir geht's gut. Ist er da? Oder kannst du reden?«
    »Wer, Jonah? Der ist nicht da. Was ist in dich gefahren, Ruthie? Wieso tust du uns das an?«
    »Ich tue euch ...? Ach, Joey. Wenn du das immer noch nicht weißt ...« Die Stimme versagte ihr. Ich kann nicht sagen, wer von uns beiden schlechter dran war. »Joey, was machst du? Alles okay?«
    »Mir geht's gut. Uns allen dreien. Pa und Jonah und mir. Alles geht ... immer so weiter. Außer dass wir uns Sorgen um dich machen, Ruth. Wir wussten ja überhaupt nicht –«
    »Hör auf. Zwing mich nicht aufzulegen.« Sie hielt die Hand vor den Hörer, damit ich einen Schluchzer nicht hören sollte. Dann war sie wieder da. »Ich will mich mit dir treffen.« Sie nannte mir eine Bar an der Nordwestecke des Union Square. »Nur du allein, Joey. Wenn du jemanden mitbringst, bin ich weg, das schwöre ich.«
    Ich schrieb Jonah einen Zettel, dass ich zum Abendessen nicht da sein würde. Ich hastete hinüber zum Union Square und fand das Lokal, das sie mir beschrieben hatte. Ruth war da, an einem der hinteren Tische. Ich wäre ihr um den Hals gefallen, aber sie war nicht allein. Sie hatte einen Leibwächter mitgebracht. Sie saß mit einem Mann zusammen, der ein paar Jahre älter war als Jonah und ein paar Schattierungen dunkler. Er hatte eine Afrofrisur und trug Jeansweste und Paisleyhemd, dazu eine Halskette mit einer kleinen silbernen Faust, die ein Friedenszeichen hielt.
    »Joseph.« Meine Schwester bemühte sich um einen souveränen Tonfall. »Das ist Robert. Robert Rider.«
    »Freut mich.«
    Robert Rider hob den Kopf, ein halbes Nicken. »Mich auch«, sagte er mit einem grimmigen Lächeln. Ich streckte ihm die Hand hin, aber statt-dessen packte er meinen Daumen, sodass mir nichts anderes blieb, als den seinen ebenfalls zu greifen.
    Ich zwängte mich auf die Bank ihnen gegenüber. Ruth sah anders aus. Sie trug ein knallgrünes Minikleid und Stiefel dazu. Ich überlegte, was sie bei unserer letzten Begegnung angehabt hatte. Ich kam in meinem üblichen olivbraunen Hemd mit der schwarzen Stoffhose, meine Uni-form schon seit zwei Jahren. Etwas an ihren Haaren war anders. Ich brachte ein Nicken zustande, das hoffentlich anerkennend aussah. »Du hast dich verändert. Was hast du gemacht?«
    Sie schnaubte. »Danke, Joey. Ich habe überhaupt nichts gemacht. Ich habe nur ein paar Sachen nicht mehr gemacht. Schluss mit der Glattzieherei. Kein Weichspüler. Überhaupt nichts mehr, nur das, was ich wirklich bin.«
    Robert grinste. »Das ist richtig, Schatz. Kraus ist die Maus.« Sie schmiegte sich an ihn, legte ihre Hand auf die seine.
    Eine Kellnerin kam und wollte meine Bestellung aufnehmen. Sie war schwarz, schön, um die zwanzig. Sie und meine Schwester hatten sich schon angefreundet. »Mein Bruder«, erklärte Ruth. Die Kellnerin lachte. Sie hielt es für einen Scherz. Ich bestellte Ginger Ale, und die Kellnerin lachte noch einmal.
    »Du siehst gut aus, Ruth«, sagte ich. Ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte. Und es stimmte. Sie sah gut aus, lebendig. Nur nicht mehr wie meine Schwester.
    »Jetzt kling doch nicht so verdattert.« Ich sah es an ihrem Blick: Sie fand mich blass. Aber sie würde nichts dazu sagen.
    »Geht es dir gut? Was machst du? Kommst du zurecht?«
    Ruth starrte mich an, verzog den Mund und schüttelte den Kopf. »Ob es mir gut geht? Ob ich zurechtkomme? Ach, Joey. Mach dir mal nicht so viele Gedanken um mich. Es gibt zwanzig Millionen Menschen in diesem Land, deren Leben ist nicht so viel wert wie du jeden Monat auf dem Konto hast.« Sie sah den Mann neben sich an. Robert Rider nickte.
    »Auf meinem Konto ...« Ich ließ es sein. Ich sah mich als das, was ich war, ein Doppelagent. Meine Schwester wollte mit mir reden. Ich hörte in ihrer Stimme, wie viel Neues sie

Weitere Kostenlose Bücher