Der Klang der Zeit
ihm. »Komm, Robert. Joey hat zu tun. Er hat keine Zeit für Fakten. Keine Zeit für die Zukunft.«
»Ruth!« Ich rieb mir die Augen. »Du bringst mich noch um. Was hat denn das alles mit ...« Ich wies auf ihre Tasche.
»Was das damit zu tun hat, wie unsere Mutter umgekommen ist? Ich dachte, es hilft dir vielleicht zu entscheiden, wessen Sohn du bist. Mehr nicht.«
My mammy's ae bairn. Ich sprach bedächtig, versuchte den richtigen Rhythmus zu finden. »Meine Mutter heiratete meinen Vater. Die beiden zogen uns groß, wie sie es für richtig hielten. Meine Mutter kam in einem Feuer um.« Das Feuer hat sie nicht umgebracht.
»Einem Feuer, das aller Wahrscheinlichkeit nach von Rassisten gelegt wurde. Tag für Tag kommen in diesem Land Menschen um, auf die gleiche Weise wie sie.«
»Deine Mutter ...« Aber ich konnte nicht mehr. Sie gehörte keinem von uns beiden. Wir hatten sie beide verloren. Noch einmal sah ich Ruth ins Gesicht. »Mama sang einen heißen Schubert.«
Sie antwortete nicht. Ein Gedanke spielte auf ihren Zügen. Ich sah ihn genau, aber ich konnte ihn nicht deuten. Sie warf viel zu viel Geld auf den Tisch und dann waren die beiden fort. Ich wollte aufstehen, ihnen nachgehen, wenigstens eine Straße oder zwei. Aber ich saß wie festge-klebt auf meiner Bank, hilflos, hoffnungslos.
Ich sagte Jonah nicht, dass ich mich mit ihr getroffen hatte. Wenn er etwas ahnte, ließ er es sich nicht anmerken. Ich habe ihn auch nie nach seinem eigenen Treffen mit ihr gefragt. Und bei Pa machte ich nicht ein-mal Andeutungen. Meine Loyalität gegenüber Ruth war größer als alles, was ich diesen beiden schuldig war, schon weil ich sie zuvor so sehr verraten hatte. Jedes Mal, wenn ich nun mit meinem Vater sprach, sah ich ein Bündel fotokopierter Polizeiberichte im Aktenschrank seines Ge-dächtnisses. Wusste er, was in diesen Berichten stand? Begriff er, was sie bedeuteten? Ich konnte nicht einmal in Gedanken die Fragen formu-lieren, geschweige denn sie aussprechen. Aber Pa klang anders, jetzt wo ich wusste, was er mir immer verschwiegen hatte, ganz gleich ob er es mir je hätte sagen können oder nicht.
Die Erinnerung an das Jahr verschwimmt zu einer einzigen großen Oper. Drei Astronauten verbrannten auf ihrer Abschussrampe. Ein südafrikanischer Arzt verpflanzte ein lebendiges Menschenherz in den Körper eines anderen. Israel besiegte die gesamte arabische Streitmacht binnen sechs Tagen, und selbst mein antizionistischer Vater zeigte etwas wie Ehrfurcht vor diesem biblischen Blitzsieg.
Ein Theaterstück, in dem ein schwarzer Boxer der Jahrhundertwende seine weiße Ehefrau auf offener Bühne küsste, brachte die Gemüter der Zuschauer mehr in Wallung als der historische Boxer es ein halbes Jahrhundert zuvor je getan hatte. Tracy und Hepburn schlugen sich mehr schlecht als recht mit der Aussicht auf einen schwarzen Schwieger-sohn. Ein schwarzer Richter zog am Obersten Gerichtshof ein, und ich fragte mich, was der Mann meiner Schwester wohl dazu sagte. Für meine Begriffe war es zu wenig und kam zu spät. Insgesamt siebzig Aufstände gab es im Laufe des Jahres, in mehr als einem Dutzend Groß-städten. Das ganze Land befand sich im Krieg mit sich selbst, und alles drehte sich um zwei einfache Worte: Black Power.
Zu meiner Überraschung war Jonah begeistert von diesem Ausdruck. Er liebte die Unordnung, die er in das Leben der braven Amerikaner brachte, die sich immer nur um ihre eigenen Geschäfte gekümmert hatten. Für ihn war es eine Art Guerillatheater, so ästhetisch aufrüttelnd wie das Beste von Webern oder Berg. Er tobte durch die Wohnung, schüttelte seine braune Faust und rief: »Mulatto Power! Mulatto Power!«, nur für mich.
Und doch machte das Jahr weiter Musik, als sei nichts gewesen, gut gelaunt, liebestrunken, sonnenverwöhnt. Die weiße Musik wurde schwarz, stahl dem funk seine gerechte Empörung. Der Motown-Sound machte sich selbst in Städten breit, deren Armenviertel nicht gebrannt hatten. In Monterey setzte der Pop zu einem Höhenflug an, über den sogar mein Bruder nicht mehr spotten konnte. Jonah brachte die erste Rockplatte mit nach Hause, für die er echtes Geld bezahlt hatte. In den pompösen Uniformen einer edwardianischen Militärkapelle blickten mir die Beatles entgegen, umgeben von einem Gewimmel weiterer Gestalten, darunter ihre eigenen früheren Inkarnationen. »Das musst du dir anhören.« Jonah stülpte mir Kopfhörer wie zwei Melonenhälften über und zwang mich, den letzten
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