Der Klang der Zeit
hervorbringen konnte. Er sang Beethovens Neunte, wiederum als Vertretung, mit der Quad Cities Symphony. Als der Schlusschor kam – der längst ad absurdum geführte Traum von der brüderlichen Eintracht, die Noten, die er einmal nach dem Gehör unter ein Bild des Nordamerikanebels an unserer Zimmerwand gekritzelt hatte –, rechnete ich halb damit, dass er etwas Hässliches daraus machen würde, einen Viertelton zu hoch, ein Wiehern, bebend und majestätisch, wie die pompösen teutonischen Ganterstimmen, über die wir uns als Kinder so oft lustig gemacht hatten.
Aber im Gegenteil. Er gab sich ganz der Verlockung des Klassischen hin. Nur Tod, Schönheit, die Scheinwelt der Kunst waren echt. Geschmeidig schwebten seine Noten hinauf in lichtdurchflutete Höhen. Nun endlich war er Vollmitglied in dem exklusiven Club, dem Himmel der hohen Kunst.
Für seine zweite Platte hatte er sich eine Sammlung von englischen Liedern in den Kopf gesetzt – Elgar, Delius, Vaughan Williams, Stanford, Drake. Harmondial redete es ihm aus. Mit der Mischung aus Dekadenz und jungenhafter Unschuld, die seine Stimme nun ausstrahlte» hätte er geklungen wie ein Chorknabe, der jeden Schritt der Pubertät hinter sich hat außer dem einen, entscheidenden.
Die Firma wollte etwas Dunkleres, das zu dem neuen Bild des umstrittenen Sängers passte. Sie einigten sich auf Schuberts Winterreise. Eigentlich war das ein Zyklus für erwachsene Männer, für jemanden, der selbst weit genug gereist war, dass er alle Stationen dieser Reise kannte. Aber als der Vorschlag einmal auf dem Tisch lag, war Jonah nicht mehr davon abzubringen.
Diesmal fand die Aufnahme in New York statt. Jonah wollte einen klareren, direkteren Ton. Die meisten der Lieder hatte Jonah im Laufe der Zeit schon gesungen. Jetzt versammelte er sie zu einer Deutung, die mir auch heute noch den Atem stocken lässt. Statt dass er unschuldig zu seiner Reise aufbrach und in bitterer Leidenschaft endete, begann er übermütig, verschmitzt, und ging bis ganz ins andere Extrem, stand am Ende zu Tode erschöpft am Rand seines eigenen Grabes.
Auch heute noch bringe ich es nicht fertig, den ganzen Zyklus in einem Zug zu hören. In fünf Tagen am Ende seines sechsundzwanzigsten Jahres machte mein Bruder eine Reise in die eigene Zukunft. Er schickte die Botschaft des Jahres 1967 voraus in ein Jahr, in dem er sie selbst nicht mehr würde lesen können. Hellsichtig sang er von dem, was uns bevorstand, von Dingen, die er nicht wissen konnte, als er davon sang, Dinge, die ich heute noch nicht sehen würde, wenn nicht seine Zeichen auf mich warteten, telegrafische Mitteilungen aus einer unvollendeten Vergangenheit.
Zwischen der ersten und der neuen Aufnahme hatte Jonah zwei Jahre Erfahrung gewonnen. Er wusste genau, wozu jede einzelne Note in jeder Phrase da war. Er hatte jeden Ton des gesamten Zyklus im Kopf, jede Nuance. Er war ein unermüdlicher Architekt, baute Brücken für diese Winterreise des Lebens, zog Seile von Start zu Ziel mit ein paar wenigen kühnen Schwüngen, maß die ganze Spanne damit ab und gab ihr Zusammenhalt. Seine Stimme war sicherer, wendiger. Wir sangen in unserer Heimatstadt, gingen jeden Abend nach Hause in unser eigenes Bett, Zuflucht vor den Unwägbarkeiten der Arbeit des nächsten Tages. Er ging mit Begeisterung ins Studio, in den schalldichten Glaskubus, der ihn von allen Gefahren der Außenwelt abschirmte. Glücklich saß er im Kontrollraum, hörte seine Stimme aus den Monitorlautsprechern, lauschte dem heroischen Fremdling, der er noch Minuten zuvor gewesen war.
Einmal, in einer langen Pause, sprach er mit mir darüber. »Kannst du dich noch an das Sputnik-Signal erinnern, vor zehn Jahren? Wie wird das hier klingen, wenn ich längst tot bin?«
Die Wände jedes einzelnen Tages waren undurchdringlich. Die Botschaft aus der Zukunft würde uns nie erreichen. Aber er war in so mitteilsamer Stimmung, es schien mir der richtige Moment für meine Frage. »Hast du eigentlich jemals überlegt, ob damals bei diesem Feuer alles mit rechten Dingen zuging?« Ein Dutzend Jahre, und noch immer konnte ich es nicht beim Namen nennen.
Aber mehr Anstoß brauchte er nicht. »Du meinst, ob da etwas faul war?« Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Inzwischen trug er es lang genug dazu. »Es war von vorne bis hinten faul, Joey. Unfälle passieren nicht einfach so. Falls das deine Frage war.«
Zwei Jahrzehnte lang hatte ich geglaubt, mir könne nichts geschehen, wenn ich mich nur mit
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