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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Titel zu hören, das langsame, kakopho-nische Anschwellen des Orchesters zu einem lauten Dur-Dreiklang, der gar nicht mehr aufhören wollte. »Was meinst du, wo haben sie das geklaut? Ligeti? Penderecki? Wieder mal Pop, der sich bei der Klassik bedient, genau wie die Schnulzensänger bei Rachmaninow.«
    Er spielte mir die ganze Platte vor und erläuterte mir seine Lieblingsstellen. Von englischer Music Hall zum Raga, von Sonatenzitaten bis zu Klängen, die noch kein Mensch ausgelotet hatte. »Abgefahren, was?« Keine Ahnung, woher er das Wort hatte.
    Das Jahr löste sich in Wolkenstreifen auf wie die Bilder aus den Nebelkammern, die Pa studierte. Die Mode überschlug sich. Safarianzüge, Kosakenblusen, Fliegerjacken, viktorianische Samtkleider, Weltraum-Miniröcke aus silberglänzendem Vinyl, Nehrumäntel, Springerstiefel mit Netzstrümpfen, Hosenröcke mit Pelerinen: alle Jahre und Orte des Planeten, alles außer der Gegenwart. Fünfzigtausend Menschen kamen auf der Mall zusammen und protestierten gegen den Krieg; eine Dreiviertelmillion zog die Fifth Avenue in New York hinunter und demonstrierte dafür. Coltrane starb, und die US-Regierung erwies offiziell dem Blues die Ehre und schickte Junior Wells auf Afrikatournee. Che Guevara und George Lincoln Rockwell starben beide eines gewaltsamen Todes. Jonah und ich verbrachten unsere Tage unter Hippies und Kran-kenschwestermördern, zwischen Entlassungen in die Freiheit und Ent-laubungsmitteln, zwischen Twiggy und Tiny Tim, Hair und dem Nackten Affen.
    Wir saßen in einem Hotelzimmer in Montreal oder Dallas und stellten den Fernseher an, um unsere Nerven zu beruhigen, und sahen die unglaublichsten Sachen, Bilder aus dem Weltall, Unruhen in den Städten, ein Love-In, Massenmörder, ein Mann, der sich zum Kaiser krönte, Aufstände in der Dritten Welt. Jonah schüttelte nur den Kopf. »Wer braucht da noch Opern, Muli ? Kein Wunder, dass die in den letzten Zügen liegen. Welche Oper könnte es mit dem hier aufnehmen?«
    Wir sahen uns die großen Auftritte des Jahres an, Akt um Akt, und warteten auf den Anruf von der Met, den Anruf, der Jonahs Erlösung sein sollte und meine Verdammnis. »Sie haben Bedenken, weil ich noch nie wirklich zu Orchesterbegleitung gesungen habe.« Er beschloss, dass er seine Vita mit einem Orchesterauftritt aufpeppen musste, egal wo. Dem verblüfften Mr. Weisman erklärte er, er solle das Erstbeste buchen, wenn nur ein paar Instrumentalisten dabei seien. »Meine Stimme hat Kraft genug. Das weiß ich.«
    »Es geht doch nicht um die kräftige Stimme, Sohn.« Mr. Weisman hatte eben seine Tochter verloren, die mit fünfzig an Brustkrebs gestorben war, und hatte uns beide als Söhne adoptiert. »Wir müssen einen Platz für dich finden. Die Leute wollen wissen, was sie von dir erwarten können.«
    »Ich singe, was sie hören wollen. Wozu brauchen sie ein Etikett? Kön-nen sie nicht einfach zuhören?«
    Er begriff nicht, warum Orchesterarbeit einen dermaßen langen Vor-lauf brauchte. »Alles wird zwei Jahre im Voraus geplant! Himmel, Joey. Einmal durchspielen, Generalprobe, Auftritt. Dann bleibt es frisch.«
    Er sprang für einen Tenor ein, der das Lied von der Erde in Interlochen singen sollte und seine Stimme verloren hatte. Der Dirigent fand niemand anderen, der bereit war, den Part so kurzfristig zu übernehmen. Jonah lernte die tückischen und spröden Tenorlieder in knapp fünf Wochen. »Solche Sachen habe ich schon als Baby gesungen, Joey.« Ich saß im Publikum, und wie alle anderen hatte ich Tränen in den Augen. Pa kam zur Premiere. Er saß da und hörte zu, wie sein Sohn sich trunken von den lautlosen Winden des Weltalls treiben ließ und für das Elend der Menschheit nichts übrig hatte als Spott. Dunkel ist das Leben, ist der Tod. Eine Stimme, die nichts kannte außer ihrem eigenen Feuer, steuerte ihren erratischen Kurs mit furioser Präzision, gespeist von einer Kunst, die allen Extremen der Musik gewachsen war: Was geht mich denn der Frühling an? Lasst mich betrunken sein!
    Leute, die nie von Jonahs Liederabenden gehört hatten, wurden auf ihn aufmerksam. Das Publikum applaudierte, als wollten sie die Symphonie der Tausend als Zugabe hören. Die Detroit Free Press nannte ihn in einer Besprechung einen »himmelstürmenden Engel«. Und sie hatte Recht. Seine Stimme war nicht von dieser Welt. Sie war auf einer ausgedehnten Reise durch unsere entlegene Galaxie, auf der Suche nach einem Ort, an dem sie ein Äon oder zwei verweilen

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