Der Klang der Zeit
Geschick und Disziplin an die Regeln hielt. Ich war der Letzte, der es begriff: Sicherheit gab es nur für die, die bestimmten, was Sicherheit war. Jonah saß da, nippte an Mineralwasser mit einem Spritzer Zitrone. Ich hatte mir heiße Tücher um die Hände gewickelt; sie sahen aus wie frisch verbunden. Ich beugte mich vor, suchte nach einem Blitzen in Jonahs Augen. Wir hatten uns zu weit voneinander entfernt, wir konnten uns auf die alte Telepathie unserer Kindertage nicht mehr verlassen. Auf der Bühne funktionierte es noch; aber noch ein Jahr oder zwei, und keiner würde mehr etwas am anderen verstehen außer der Musik. An diesem Nachmittag las er ein letztes Mal meine Gedanken, als wären es seine eigenen.
»Früher habe ich jeden Abend daran gedacht. Ich wollte dich immer fragen, Joey.«
»Warum hast du es nicht getan?«
»Ich weiß nicht. Ich dachte, wenn ich dich frage, wird es wahr.« Er massierte sich den Hals, rieb die Stelle unter den Ohren, umfasste sein Kinn. Er pflegte das Instrument, von dem er lebte. Die Farbe seines Halses verriet nicht, woher er kam. Aus diesem Indiz hätte niemand geschlossen, was die Zeit ihm angetan hatte. »Spielt es denn eine Rolle, Joey? Ob es nun so war oder anders?«
Meine Hände zuckten, schüttelten ihre Bandagen ab. »Spielt es eine Rolle? Himmel. Natürlich.« Es war die wichtigste Frage von allen. Mord oder Unfall? Jedes Bild, das wir von uns hatten, jede Deutung meines eigenen Lebens hing von der Antwort auf diese Frage ab.
Mein Bruder steckte die Finger in das Zitronenwasser und fuhr sich damit über den Hals. »Gut. Dann will ich dir sagen, wie ich darüber denke. Das Ergebnis von zwölf Jahren Nachdenken.« Seine Stimme
war tonlos, sie kam aus einem Bereich, der keinen Gesang kannte. »Du willst wissen, was geschehen ist. Du denkst, wenn du erst einmal weißt, was wirklich war, dann weißt du ... ja was? Was die Welt mit dir machen wird. Du denkst, wenn du nur wüsstest, ob sie deine Mutter umgebracht haben, wenn du nur wüsstest, ob deine Mutter bei einem echten Unfall umgekommen ist... Stellen wir uns vor, es war nicht einfach nur der Heizkessel. Stellen wir uns vor, jemand hat nachgeholfen. Hast du dann deine Antwort? Dann hast du noch nicht einmal die Frage. Warum haben sie sie umgebracht? Weil sie schwarz war? Weil sie zu frech geworden war, die falschen Lieder sang? Weil sie die Grenze überschritten hatte, als sie deinen Vater heiratete? Weil sie sich nicht unterkriegen ließ ? Weil sie ihre Mutantensöhne auf eine Privatschule schickte? War es nur eine Abschreckungsmaßnahme, die über das Ziel hinausschoss? Wussten sie überhaupt, dass sie im Haus war? Vielleicht hatten sie es auf Pa abge-sehen. Vielleicht galt es uns Kindern. Jemand, der die Rassen unseres Landes rein halten wollte. Du müsstest wissen, ob es ein einzelner Irr-sinniger war, ob es die Nachbarn waren, ob es eine Bande von anderswo war, zwanzig Häuserblocks weiter im Norden oder Süden. Als Nächstes müsstest du überlegen, warum dein Vater nie versucht hat ...«
Er hielt inne, um Atem zu schöpfen, aber nicht weil ihm die Puste ausging. Er hätte noch ewig weitersegeln können auf seinem Luftstrom.
»Oder stellen wir uns vor, es war der Heizkessel. Keiner half nach, keiner fühlte sich berufen Schicksal zu spielen. Warum ausgerechnet dieser Heizkessel? Warum wohnten wir in einem Haus mit so einem Kessel? Wird die Sicherheit von Heizkesseln nicht überprüft, in den besseren Vierteln? Wie wäre sie gestorben, wenn sie in den ausgebrannten Straßen irgendwo zwischen Seventh und Lenox Avenue gewohnt hätte? Die Leute da sterben an Tetanus. An Grippe. Sie sterben, weil sie nicht lesen und schreiben können. Verbluten auf dem Rücksitz eines Autos, weil das Krankenhaus sie nicht aufnimmt. Wenn eine Frau wie Mama stirbt, in diesem Land, in ihrem Alter, dann ist daran jemand schuld. Was musst du da noch wissen? Also, Joey. Hätte es einen Ein-fluss auf dein Leben, wenn du die Antworten wüsstest, wenn auch die letzten Zweifel ausgeräumt wären?«
Ich musste an Ruth denken. Ich wusste nicht, was ich Jonah antworten sollte. Aber er hatte eine Antwort für mich.
»Du brauchst nicht zu wissen, ob jemand sie bei lebendigem Leibe angesteckt hat. Es reicht, wenn du weißt, ob jemand es tun wollte. Und auf die Frage kennst du die Antwort. Du kennst die Antwort, seit du – was weiß ich – sechs warst? Vielleicht hat einer getan, was alle gern tun wollten. Vielleicht auch nicht. Vielleicht
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