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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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beizubringen versucht. Eine Pforte tut sich auf, ein Gefühl durchströmt sie – und plötzlich weiß sie, dass sie die richtige Wahl getroffen hat. Die Angst schwindet, die alten Fußfesseln, von denen sie nicht einmal wusste, fallen ab. Jetzt sind sie auf dem richtigen Weg, sie und ihr Volk. Beide werden sie erkennen, dass es nur eine Richtung gibt, und die ist vorwärts. Am liebsten würde sie einen Luftsprung machen und laut juchzen, wie so viele rundum es schon tun, ganz egal was die Weißen dazu sagen. Das ist kein Konzert. Es ist ein Erweckungsgottesdienst, eine landesweite Taufe, und am Ufer des Flusses schlagen die Wellen der Erwartung hoch.
    In dieser Menschenmenge fühlt sie sich sicher, eine angenehme Art von Sicherheit. Das schiefergraue Kleid aus Kammseide, das sich auf den Konzerten in Philadelphia immer so gut macht, ist hier fehl am Platze, viel zu elegant, der Saum gerade einmal fünf Zentimeter über dem Boden. Doch jeder, der sie ansieht, sieht sie mit Freuden. Sie geht an Leuten vorbei, die auf Maultierwagen von den Tabakfeldern gekommen sind, und an anderen, die Aktienpakete von General Motors im Stahlschrank haben. Zu ihrer Rechten hat sich ein Grüppchen in Overalls eng zusammengedrängt, eingeschüchtert von so viel Öffentlichkeit. Zwei gebeugte Alte im Sonntagsstaat drängeln vorbei, wollen ganz nach vorn und die Bühne sehen. Delia mustert die Überzieher, Capes, Wettermäntel, Pelerinen, die ganze Skala von mottenzerfressen bis hoch elegant, runde, ovale, eckige, U-Boot-Ausschnitte, alle Schulter an Schulter.
    Ihre Lippen formen die Worte, die Kehle liefert die Töne: Alle Täler sollen erhöht werden. Ein glatzköpfiger, zahnlückiger Mann, bleich wie ein Gespenst, verloren in seinem viel zu großen grauen Sommeranzug, im gestärkten blauen Hemd und einer mit den Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt bedruckten Krawatte, hört, wie sie laut singt, was sie doch nur in Gedanken singen wollte. »Gott segne dich, Schwester!«, sagt der Gespenstermann. Mit einem Neigen des Kopfes nimmt sie den Segen entgegen.
    Die Menge wird immer dichter. Sitzplätze gibt es längst keine mehr, die Leute drängen sich entlang der spiegelnden Wasserfläche bis hinunter zum West Potomac Park. Der Fußboden dieser Kirche besteht aus Rasen. Die Säulen ihres Schiffs sind junge Bäume. Darüber wölbt sich als Kuppel der Osterhimmel. Je näher sich Delia an den Fleck in der Ferne heranarbeitet, das Klavier, den Strauß von Mikrofonen, vor dem
    ihr Idol singen soll, desto dichter drängen sich die Menschen. Die Energie all dieser Erwartung packt sie, erhebt sie, trägt sie unwillkürlich weiter, bis sie hundert Meter flussaufwärts, am Tidal Basin, wieder zu Boden kommt. Sie schwimmt in einem Meer von Kirschblüten. Sie locken mit ihrem betörenden Duft, ein Schneesturm von Blütenblättern umwirbelt sie, weckt den Geist jedes Osterfests, an dem sie sich verheißungsvoll entfaltet haben.
    Und die Farbe dieser strömenden Menschenmasse ? Sie hat gar nicht darauf geachtet. Sonst geht sie nie an einen öffentlichen Ort, ohne dass sie sorgfältig den durchschnittlichen Farbton abschätzt, der Gradmesser für ihre Sicherheit. Aber diese Menschenmenge schillert wie ein bis zum Horizont reichendes Band aus Pannesamt. Nie zuvor ist sie Teil einer Menschenmenge gewesen, in der die Rassen sich so unbekümmert mischten, einer Menschenmenge so groß, dass ihr Land kaum hoffen kann, diesen Auflauf zu überleben; sie sind gekommen, um das seit Jahrhunderten überfällige Ende der Negersitze in den Bussen, der Negerränge im Theater zu feiern. Schwarz und Weiß sind in Massen gekommen, jeder hilft dem anderen, jeder wartet, dass ein Klang die Leere füllt, die er in seinem Inneren spürt. Niemand kann vertrieben werden vom unendlichen Parkett dieses Konzertsaals.
    Weit im Nordwesten, eine Meile in Richtung Foggy Bottom, ist ein Mann unterwegs zu ihr. Achtundzwanzig, aber sein zerfurchtes Gesicht wirkt ein ganzes Jahrzehnt älter. Sein Kopf dreht sich in alle Richtungen, die Augen hinter der schwarzen Hornbrille mustern unablässig das Leben ringsum. Die schiere Tatsache, dass er am Leben ist und etwas so Unerhörtes mit ansehen kann, spottet jeder Wahrscheinlichkeit.
    Er kommt zu Fuß von Georgetown, wo zwei alte Freunde aus seinen Berliner Tagen ihn aufgenommen haben – sodass er sich kein Zimmer suchen musste, ein Akt der Realpolitik, dem er wohl kaum gewachsen gewesen wäre. Er ist am Vorabend mit dem Zug aus New York

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