Der Klang der Zeit
gekommen, wo er das vergangene Jahr im Schütze der Columbia–Universität verbracht hat. Gestern war David Strom noch in Flushing Meadows, wo die Weltausstellung Gestalt annimmt, »Die Welt von morgen«. Heute in Georgetown ist er zu einer Parade der Welt von gestern erwacht. Aber nun gibt es nur noch das eine, einzige Jetzt, jede Infinitesimale im Dreieck seiner Schritte aufgehoben in der Zeit, in der Theorie unendlich.
Er ist auf George Gamows Einladung in der Stadt und soll an der Washington-Universität einen Vortrag über Milne und Diracs doppeltes Zeitmaß halten: Für seine Begriffe pure Phantasie, aber so schön und faszinierend wie die Wahrheit. Drei Monate zuvor war er schon einmal in der Stadt, auf dem Physikerkongress, zu dem Bohr die Koryphäen ihrer Zunft zusammengerufen und auf dem er das Gelingen der Kernspaltung bekannt gegeben hatte. Nun kehrt David Strom zurück, um dem immer größer werdenden Stoß unendlich kurioserer Theorien ein paar persönliche Anmerkungen hinzuzufügen.
Aber etwas anderes an dieser Reise ist ihm wichtiger: Er will noch einmal die Sängerin hören, die es als einzige Amerikanerin mit den größten Europäern aufnehmen und mit ihrem Gesang das Gewebe von Raum und Zeit zerreißen kann. Alles andere – der Besuch bei den Freunden in Georgetown, der Vortrag an der Universität, der Besuch der Library of Congress – ist ein Vorwand. In Gedanken ist er in der Vergangenheit. Mit jedem Schritt in Richtung Mall schiebt er die letzten vier Jahre zurück, legt den Tag wieder frei, an dem er diese unglaubliche Stimme zum ersten Mal hörte. Den Ton hat er noch so genau im Ohr, als lese er ihn von der Partitur: 1935, im Wiener Konzerthaus, wo Toscanini verkündete, dass es eine Stimme wie diese nur einmal alle hundert Jahre gebe. Strom weiß nicht, mit welchem Zeitmaß der Maestro misst, aber Toscaninis hundert Jahre kommen ihm entschieden zu kurz vor. Die Altistin sang Bach – »Komm, süßer Tod.« Als sie an die zweite Strophe kam, war Strom bereit.
Heute ist Ostern, der Tag, an dem nach christlicher Vorstellung der Tod überwunden wurde. Bisher hat Strom nur wenig Beweismaterial für diese Theorie gesehen. Für seine Begriffe sieht es eher so aus, als stünde dem Tod ein furioses Comeback bevor. Strom kann es sich nicht erklären, aber schon dreimal hat der Engel des Todes ihn verschont. Selbst der überzeugteste Determinist kann es nur eine Laune des Schicksals nennen. Zuerst dass er, als das Beamtengesetz am Horizont erschien, seinem Mentor Hanscher nach Wien gefolgt war und Berlin verlassen hatte, nur Tage bevor der Reichstag brannte. Dann die Habilitation. Der Eindruck, den er auf der Tagung zur Quantenphysik in Basel gemacht hatte und der ihm eine Einladung zu Bohr nach Kopenhagen bescherte, wenige Monate bevor Wien sämtliche Juden – ob gläubig oder nicht – aus der Fakultät entfernte. Dass er mit dem Empfehlungsbrief von Hanscher davongekommen war, dem kürzesten und doch großzügigsten, den je ein Mensch geschrieben hatte: »David Strom ist Physiker.« Und schließlich, vor gerade einmal einem Jahr, das Asyl in den Vereinigten Staaten, auf der Grundlage eines einzigen wissenschaftlichen Aufsatzes, dessen Bestätigung zehn Jahre früher gekommen war, als zu erwarten, angetrieben von einer kosmologischen Konstellation, wie sie höchstens alle zwei Leben vorkam. Dreimal, nach Davids eigener Zählung, hatte ihn ein Schicksal gerettet, das noch blinder schien als alle Theorie.
All das ist für ihn der Beweis für einen Riss im Raum-Zeit-Gefüge, den keine Theorie überbrücken kann. Vier Jahre zuvor hat er glücklich Kon-zerte in Europa besucht, als erklänge der ganze Kontinent noch in einer einzigen gemeinsamen Tonart. Jetzt, bei diesem neuerlichen Konzert, alte Musik in einem neu gefundenen Land, klingt nichts mehr wie es war. Zwischen Exposition und Reprise liegt eine quälende Durchführung, zerrissen, atonal, ungenießbar. Seine Eltern in Rotterdam versteckt. Seine Schwester Hannah mit ihrem Mann Vihar auf der Flucht, in der Hoffnung, die Hauptstadt von dessen Heimatland zu erreichen, Sofia. Und David ein Ausländer mit Bleiberecht im Land wo Milch und Honig fließen.
Die Zeit mag ihre Quantenstruktur noch enthüllen, so diskontinuierlich wie die Noten einer Melodie. Vielleicht kann man sie vor– und zurückdrehen, von subatomen Chrononen transportiert, so diskret wie der Stoff, aus dem die Materie ist. Tachyonen, in Bereichen oberhalb der
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