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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Ruf. Strom blickt auf. Aber das Ereignis ist schon vorbei, als die Schallwelle ihn erreicht. Der Ton, im Gegensatz zum Jetzt des Lichts, pflanzt sich so langsam fort, dass er ebenso gut still stehen könnte. Miss Anderson hat die Bühne betreten, mit ihrem finnischen Pianisten. Die Würdenträger auf der hastig gezimmerten Tribüne erheben sich. Ein halbes Dutzend Senatoren, eine größere Anzahl Kongressabgeordnete, darunter ein einziger einsamer Neger, drei oder vier Kabinettsmitglieder und ein Richter des Obersten Gerichtshofs applaudieren, jeder aus seinen ganz persönlichen Gründen.
    Der Innenminister tritt vor das Bouquet von Mikrofonen. Die Leute rund um Strom werden unruhig, vor Stolz, aber auch vor Ungeduld. »Es gibt Menschen« – die Stimme des Staatsmanns hallt über das gewaltige Amphitheater –, »die zu furchtsam oder zu gleichgültig sind« – nur das Echo lässt ahnen, wie groß die Kathedrale ist –, »die Fackel zu ergreifen, die Jefferson und Lincoln einst erhoben ...«
    Herr im Himmel, lasst die Frau endlich singen. Oder in der Sprache, die er auf der Zugfahrt gelernt hat: Jetzt halt endlich die Klappe, Mann. Mach die Fliege. Da wo Strom herkommt, geht es beim Singen vor allem darum, dass das Geplapper der Menschen aufhört. Aber hier schwingt der Minister seine Reden. Strom arbeitet sich noch ein Stückchen weiter vor, und so dicht gepackt die Menge vor ihm auch ist, bleibt doch immer noch eine kleine Lücke, in die er hineinschlüpfen kann.
    Dann hebt Miss Anderson zu singen an, eine Königin ohne Allüren, im langen Pelzmantel zum Schutz vor der kühlen Aprilluft. Ihr Haar ist wie eine Jakobsmuschel, die beiderseits die Wangen einrahmt. Sie wirkt ätherischer als Strom sie in Erinnerung hatte. Sie steht ruhig da, als könne das Leben ihr längst nichts mehr anhaben. Doch diese Ruhe täuscht, das spürt Strom über die Köpfe von Tausenden hinweg. Er hat dieses Beben schon mehrfach erlebt, von einem Parterreplatz in der Wiener Staatsoper aus oder durchs Opernglas von den Studentenplätzen in den Konzerthallen von Hamburg und Berlin. Doch hier unter diesem Denkmal kommt das Beben so unerwartet, dass Strom zunächst nicht weiß, wie er es deuten soll.
    Er dreht sich um und betrachtet die Masse, überlegt, was sie von oben sieht. Die Menschenmenge erstreckt sich so unermesslich über den Park, dass der Schall einen ganzen Herzschlag lang brauchen wird, bis er die hintersten Hörer erreicht. Er versucht die Zahl zu schätzen, aber er gibt es auf. Die Zahl der Menschen ist so unendlich wie die Zahl der Gründe, die sie hierher geführt hat. Strom blickt zurück zu der Sängerin allein dort oben auf ihrem Golgatha, und jetzt weiß er, was dieses Beben bedeutet. Die Stimme des Jahrhunderts fürchtet sich.
     
    Die Angst, die sie überkommt, hat nichts mit Lampenfieber zu tun. Sie hat im Laufe ihres Lebens zu hart an sich gearbeitet, um jetzt an ihren Fähigkeiten zu zweifeln. Ihre Stimmbänder werden sie nicht im Stich lassen, nicht einmal bei dieser schweren Prüfung. Die Musik wird vollkommen sein. Aber wie wird man sie aufnehmen? Vor ihr erstreckt sich ein Meer von Körpern, eine Armee von Seelen, so weit das Auge reicht. Sie stehen dicht an dicht, rings um die spiegelnde Wasserfläche, eine undurchdringliche Masse, bis hinüber zum Washington-Denkmal. Und von dieser Heerschar der Hoffnungsvollen geht eine Sehnsucht aus, so gewaltig, dass sie sie verschlingen wird. Sie ist gefangen am Grunde eines Ozeans der Hoffnung und ringt nach Luft.
    Seit dem Tag, an dem die Idee Gestalt annahm, hat sie sich gegen diesen Auftritt gesträubt. Aber der Lauf der Geschichte lässt ihr keine Wahl. Sie steht nicht mehr nur für sich selbst – einmal zum Sinnbild erkoren, ist das ein Luxus, der unmöglich für sie geworden ist. Sie hat nie für die Sache gekämpft, außer durch das Leben, das sie Tag für Tag führt. Die Sache hat sich ihrer angenommen und ihre Lieder in eine andere Tonart übertragen.
    Das eine Konservatorium, an dem sie sich vor langer Zeit beworben hatte, wies sie ohne eine Chance zum Vorsingen ab. Der einzige Kommentar zu ihren künstlerischen Fähigkeiten lautete: »Wir nehmen keine Farbigen.« Es vergeht kaum eine Woche, wo sie ihre Zuhörer nicht damit schockiert, dass sie Strauß oder Saint-Saëns singt. Seit ihrem sechsten Lebensjahr arbeitet sie an der Entwicklung einer Stimme, die sich nicht einfach mit den Worten »schwarzer Alt« beschreiben lässt. Jetzt ist ganz Amerika auf den

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