Der Klang der Zeit
Ansatz – all die technischen Dinge, die Lugati, ihr geduldiger Lehrer, ihr die letzten Jahre immer und immer wieder eingeschärft hat –, aus all dem kann sie nicht halb so viel lernen wie aus dieser Fahrt nach Washington. Miss Anderson, das ist für sie die Freiheit. Jemand wie sie kann alles erreichen.
Die Hauptstadt fröstelt in der Aprilkälte. Sie hat so viel von den Kirschbäumen gehört, schon als sie aus dem Zug steigt, in der Union Station, hält sie danach Ausschau. Die Kassettendecke wölbt sich über ihr, eine zerbröckelnde neoklassizistische Kathedrale für den Gott des Massenverkehrs, der sie auf ihrem Weg klein und unsichtbar werden lässt. Sie bewegt sich zwischen den Menschenmengen mit angespannten, ängstlichen Schritten, wartet nur darauf, dass jemand ihr das Recht streitig macht dort zu sein.
Washington: Jedes Schulmädchen in Philadelphia, das ein bisschen Glück hat, macht einen Ausflug dorthin; aber Delia hat erst in ihrem zwanzigsten Jahr zum ersten Mal einen Grund für eine solche Fahrt. Vom Bahnhofsportal aus schlägt sie den Weg nach Südwesten ein. Sie wirft einen Blick auf Howard, die Universität, auf die ihr Vater gegangen ist und auf die sie seinen Wünschen nach ebenfalls gegangen wäre, damit etwas aus ihr wurde. Zu ihrer Linken erhebt sich das Kapital und sieht in Wirklichkeit noch unechter aus als auf den Tausenden von Bildern, denen sie schon immer misstraut hat. Das Haus, das nun, nach einer ganzen Generation, auch Menschen ihrer Hautfarbe wieder offen steht. Sie kann den Blick gar nicht mehr davon abwenden, ein Fels in der Brandung. Um sie herum erwacht das Land zum Frühling, sie schwimmt mit im Strom der Menschen, kichert vor sich hin, auch wenn sie sich immer wieder zum Stillschweigen ermahnt.
Die ganze Stadt ist ein Postkartenpanorama. Als bewegte man sich mitten in einem zerfledderten Sozialkundebuch für weiße Erstklässler. Zumindest am heutigen Tag mischen sich auf den denkmalgesäumten Alleen die Rassen. Die Gruppe aus ihrer Baptistengemeinde wollte sich einen Platz vorn links suchen, an der Treppe zum Lincolndenkmal. Aber schon als sie in die Constitution Avenue einbiegt, sieht sie, wie aussichtslos es ist, sie zu finden. Bei diesen Massen, so dicht gepackt, so ekstatisch, gibt es kein Durchkommen.
Delia Daley blickt hinaus auf das wogende Feld von Menschen. Nie im Leben hätte sie sich vorgestellt, dass es so viele Menschen überhaupt geben kann. Ihr Vater hat Recht: Die Welt ist böse, sie ist zu groß, als dass sie für jemanden sorgen könnte, nicht einmal für ihr eigenes Überleben. Delia drosselt ihr Tempo, als sie sich in die meilenlange Kolonne einreiht. Als seien alle, die jemals aus dem Süden geflohen waren, an diesem Tag zurückgekehrt. Es läuft ihr kalt den Rücken hinunter. Eine solche Menschenmasse könnte sie zu Tode trampeln, ohne es überhaupt zu merken. Aber was am anderen Ende des Gedränges winkt, ist das Risiko wert. Sie atmet tief ein, zwängt ihr Zwerchfell nach unten –Atemstütze, Appoggio! – und stürzt sich in die Menge.
Sie hatte etwas ganz anderes erwartet, eine Zusammenkunft von Musikfreunden, wie ein Konzertabend, nur größer. Was heute gesungen werden soll, ist ja nicht gerade Cotton Club und auch nicht Rudy Vallee. Seit wann mobilisiert der italienische Kunstgesang ganze Armeen? Im Strom der Massen schwimmt sie durch die abgesperrte 14. Straße, in den Schatten des großen Obelisken des Washingtondenkmals, der größten Sonnenuhr der Welt, ein Schatten so groß, dass keiner die Zeit daran ablesen kann. Dann hat der Wal sie verschluckt, und sie hört nur noch den gewaltigen Herzschlag des gestrandeten Tieres.
Hier drängt etwas zum Leben, und was hier ungeduldig im Mutterschoß strampelt, ist größer als Musik. Etwas, wofür zwei Monate zuvor niemand auch nur einen Namen gehabt hätte, wird hier geboren, macht seine ersten, verblüfften Atemzüge. Gleich neben Delia marschiert in dieser Heerschar ein Mädchen, die Haut so dunkel wie ihr Bruder Charles – ein Mädchen im High School-Alter, auch wenn, ihrem Gesicht nach zu urteilen, die High School ein unerfüllter Traum ist –, und sie dreht sich in alle Richtungen, blickt jedem ins Auge, der bereit ist, sie anzusehen, ein Blick der Befreiung, auf die sie ein ganzes Leben lang gewartet hat.
Delia taucht tiefer ein in den Strom, und ihre Kehle wird frei, die Beklemmung löst sich, wie ein Wimpel sich aufrollt. Das Öffnen der Stimme, das Lugati ihr schon seit Monaten
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