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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Lichtgeschwindigkeit – Phantasien, die nicht einmal Einstein ganz ausschließt – bombardieren womöglich unser Leben mit der Kunde von allem, was ihm noch bevorsteht, doch wir, langsamer als das Licht, können die Botschaften nicht lesen. David Strom hätte nicht hier sein sollen, nicht frei, nicht am Leben sein sollen. Und doch ist er hier. Er ist unterwegs durch Washington, will eine Göttin singen hören, unter freiem Himmel.
    Strom biegt in die Virginia Avenue und erblickt die Menschenmassen. Nie zuvor ist er so vielen so nahe gekommen. In Europa hat er sie nur in den Wochenschaufilmen gesehen – die Begeisterten auf den Sportveranstaltungen, die Heerscharen, die sich drei Jahre zuvor versammelt hatten, um mit anzusehen, wie Hitler dem nichtarischen Übermenschen die Goldmedaille verweigerte. Die Massen, die er jetzt sieht, scheinen unendlich, aber sie sind fröhlicher und anarchischer. Musik allein kann dafür nicht verantwortlich sein. Hinter solchen Volksmassen muss ein größeres Libretto stecken. Bis zu diesem Augenblick hat Strom keinen Begriff davon gehabt, zu welcher Art Konzert er unterwegs ist. Die Zusammenhänge begreift er erst, als er sie vor sich sieht.
    Diese Mauer aus Menschen verschlägt ihm den Atem. Der Schimmer von Zehntausenden von Leibern, die Menschheit in ihre Atome gespalten, ein elektrostatisches N-Körper-Problem, das kein Mathematiker je lösen wird. Die Unergründlichkeit der Physik wird zur Panik, und er er-greift die Flucht. Er hastet die Virginia Avenue zurück in die Sicherheit von Georgetown. Aber mehr als ein paar Dutzend Meter kann er nicht zurück, dann hört er wieder die Stimme in seinem Inneren. Komm, süßer Tod. Er bleibt auf dem Bürgersteig stehen und lauscht. Was kann ihm die Auslöschung schon anhaben? Welch besserer Klang sollte ihm das Ende bringen ?
    Er kehrt zurück zu der vorandrängenden Masse, macht sich die Panik in seiner Brust zunutze, wie es auch ein erfahrener Sänger getan hätte. Er atmet tief ein und stürzt sich in den Mahlstrom. Die geballte Faust in seinem Inneren löst sich, weicht einem Glücksgefühl. Keiner hält ihn an und will seinen Ausweis sehen. Keiner weiß, dass er Ausländer ist, Deutscher, Jude. Keiner nimmt überhaupt wahr, dass er da ist. Ein Fremder unter Fremden.
    Einen Moment lang bricht die Sonne durch und strahlt über dem buntesten Land der Erde. David Strom ist in ein Monumentalgemälde geraten, sozialer Realismus, unter die Massen eines Kreuzzugs und weiß nicht einmal wofür – eine Masse, die auch in diesem Jahr wieder wartet, dass der Mythos Wirklichkeit wird. Wo sonst auf der Welt haben so viele über einen so langen Zeitraum hinweg so fest darauf vertraut, dass schon bald etwas Großes und Gutes geschehen wird? Aber heute könnte sich die Erwartung dieser Bewohner der Neuen Welt erfüllen. Er schüttelt den Kopf und arbeitet sich weiter zur improvisierten Bühne vor. Vielleicht werden die Prophezeiungen doch noch wahr, wenn denn noch jemand da ist, der ihre Erfüllung erlebt. Europa steht wieder in Flammen. Auch hier arbeiten die Waffenschmieden Tag und Nacht. Aber das ist der Weltbrand von morgen. Das heutige Feuer hat einen anderen Schimmer, und seine Wärme und sein Licht ziehen Strom magisch an.
    Er bewegt sich im Takt mit den Leibern ringsum, reckt sich, damit er etwas sehen kann. Monumentale Gebäude säumen diesen gewaltigen Konzertsaal – State Department, Federal Reserve Bank –, weiße Türstürze und Säulen, Wahrzeichen einer alles beherrschenden Macht. Er ist nicht der Einzige, der steht und staunt. Obwohl er gerade einmal ein Jahr in Amerika ist – überlegt Strom –, fiele es ihm leichter, dies Land als »sein Land« anzusehen als der Hälfte der Menschen, die hier versammelt sind, Menschen, die schon in der zwölften Generation in diesem Lande sind, doch keiner von ihnen aus freien Stücken.
    Hunderttausend Füße schieben sich an diesem Apriltag über die Wiese. Er kommt an einem Prediger vorbei, der eine schweinslederne Bibel in die Höhe hält, an drei kleinen Kindern auf einer Apfelsinenkiste, einem Trupp blau uniformierter Polizisten mit blitzenden Messing-knöpfen, genauso benommen von den Massen, unter denen sie Ordnung halten sollen, wie die Massen selbst, an drei breitschultrigen Männern in Filzhüten und schwarzen Anzügen, bedrohlich aussehenden Gangstern, allerdings schwer behindert von den klapprigen Fahrrädern, die sie neben sich herschieben.
    Von den vorderen Rängen ertönt ein

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