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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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ins Rampenlicht. Die Met bot ihm die Hauptrolle in einer neuen Oper von Gunther Schuller an, Die Heimsuchung.
    In Boston, als Kinder, waren wir Schuller einmal begegnet. Jahre später machte Jonah eine Third-Stream-Phase durch, die tatsächlich mehrere Wochen anhielt. Eine Oper von diesem Komponisten war mit Sicherheit eine faszinierende Sache. Eine Nordamerikapremiere sorgte für mehr Aufmerksamkeit als selbst Jonah verlangen konnte. Er hatte in diesem Spiel gute Karten.
    »Du musst ja diesen Linwell regelrecht verhext haben«, meinte Mr. Weisman, als er anrief und von dem Angebot berichtete. »Was hast du ihm vorgesungen?«
    »Worum geht es in der Oper?«
    Das Libretto, erklärte Weisman, basiere auf einer Fabel von Kafka, übertragen auf die sozialen Konflikte im Amerika unserer Tage.
    »Und die Rolle?«
    Über die Rolle wusste Mr. Weisman nichts. Nicht einmal den Namen der Gestalt konnte er ihm sagen. Vielleicht habe Jonah nicht ganz verstanden: Es handle sich um die Hauptrolle in der Premiere eines neuen Werks eines angesehenen Komponisten, eines Stückes, das in Hamburg vor begeisterten Zuschauern ein ganzes Jahr lang gelaufen sei.
    Wozu er da noch Fragen stelle ? Ein Sänger könne den Erzengel Gabriel mit seinem Gesang in die Tasche stecken, er könne einen Triumph nach dem anderen an einer Provinzoper feiern, er könne mit der Muse selbst ins Bett gehen und sich trotzdem noch glücklich schätzen, wenn er einmal im Leben ein solches Angebot bekam.
    Aber Jonah wollte die Partitur sehen, bevor er sich festlegte. Es schien eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme. Ich verging selbst nach Jahren des knapp bezwungenen Lampenfiebers noch fast vor Angst bei dem Ge-danken, dass Jonah sich auf ein Projekt dieser Größe einlassen wollte, vor so vielen Menschen. Insgeheim hatte ich eine leise Hoffnung, dass er die Produzenten mit der Frage nach der Partitur so sehr verärgerte, dass sie ihr Angebot zurückzogen. Außerdem konnte es auch immer noch sein, dass das ganze Land in den Abgrund stürzte, bevor die Noten ein-trafen.
    Aber die Vereinigten Staaten hielten doch noch ein paar Wochen durch und Jonah bekam sein Exemplar der Heimsuchung. Wir verbrachten zwei wunderbare Tage damit, die Oper einmal komplett zu spielen. Für diese Sünde werde ich mich am jüngsten Tag verantworten müssen; der Him-mel verzeihe mir, aber ich habe immer mit Begeisterung vom Blatt gespielt. Jonah war ein wahres Wunder, er sang sämtliche Rollen, und ich klimperte dazu eine zweihändige Klavierreduktion. In dieser Partitur gab es alles: serielle Passagen, Polytonales, Jazz – eine große Wundertüte voller Klänge, durch und durch amerikanisch. »Zitateraten«, sagte Jonah einmal, als wir beide Schulter an Schulter auf der Klavierbank saßen. »Wie in alten Zeiten.«
    Und auch die Geschichte war, obwohl sie von Kafka stammte, schieres Amerika. Ein junger, lebensfroher Student wird verhaftet und vor einem surrealen Tribunal einer Reihe geheimnisvoller Verbrechen angeklagt, von denen er allesamt nichts weiß. Er wird für schuldig befunden und vom Mob zerrissen. Der Mann wird nie beim Namen genannt. Die ganze Partitur hindurch heißt er immer nur »der Neger«.
    Wir begriffen bald, was das bedeutete, aber wir lasen trotzdem weiter. Keiner von uns hatte Lust, die Sprache darauf zu bringen. Wahrschein-lich hatte er seine Entscheidung schon vor dem Ende des ersten Akts gefällt. Aber wir machten immer weiter, und Jonah ließ sich nichts anmerken. Ich wusste nicht, auf welches Ergebnis ich hoffen sollte. Als wir am letzten Schlussstrich angekommen waren, verkündete er: »Tja, Muli, das wäre das.«
    »Es ist gute Musik«, sagte ich.
    »Oh, die Musik ist wunderbar. Ein paar Augenblicke sind sogar großartig.«
    »Es ... könnte wichtig sein.« Ich weiß nicht, warum ich mir überhaupt die Mühe machte etwas zu sagen.
    »Wichtig, Muli?« Er kreiste das Opfer ein. »Wichtig für die Musik, meinst du? Oder wichtig für die Gesellschaf?« Er gab dem Wort einen Ton, der nicht ganz Verachtung war. Verachtung hätte zu viel Interesse gezeigt.
    »Es ist zeitgemäß.«
    »Zeitgemäß? Was soll denn das nun wieder heißen, Muli?«
    »Es geht um Bürgerrechte.«
    »Tatsächlich? Ich wusste doch, dass es um irgendwas gehen muss.«
    »Es ist sexy.« Das einzige Wort, das ihn innehalten ließ.
    »Da ist was dran.« Er schwankte, als überlege er, ob er Mr. Weisman bitten sollte, herauszufinden, wer für die weibliche Hauptrolle vorgesehen war. Aber dann

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