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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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ist sie einen Tod gestorben, der nichts mit ihrer Hautfarbe zu tun hatte. Vielleicht kommt es wirklich vor, dass Heizkessel explodieren. Du weißt es nicht, du kannst es nicht wissen, du wirst es nie wissen. Genau das bedeutet Schwarzsein in diesem Land. Dass man niemals Gewissheit hat. Weißt du, was es bedeutet, wenn sie dir das Wechselgeld auf den Tisch legen und nicht in die Hand? Wenn sie schon eine Querstraße bevor sie dir begegnen die Straßenseite wechseln? Vielleicht wollten sie ja auf die andere Seite. Das Einzige, was du mit Sicherheit weißt, das ist, dass jeder von ihnen dich hasst. Sie hassen dich dafür, dass du sie dabei erwischst, wie sie sich selbst belügen.«
    Er rollte mit der Schulter, eine Lockerungsübung für Sänger. Bereit zur Rückkehr ins Studio, bereit mit seinem Leben weiterzukommen. »Einmal habe ich Pa zum Reden gebracht. Weiß der Geier, wo du da warst, Joey. Kann ja nicht immer auf dich aufpassen. Offenbar hat er ihr vor der Hochzeit erklärt, dass es, logisch gesprochen, vier Möglichkeiten für uns gibt: A, B, A und B, weder A noch B. Die starren Kategorien gefielen ihm nicht. In der Zeit gab es so etwas nicht. Was wusste er über uns? Genauso wenig wie wir über ihn wissen. Sie wollten beide nicht wahr-haben, dass Rasse mächtiger ist als alles andere. War das denn nicht der Trick, mit dem die Geschichte uns hereingelegt hatte? Beide waren sie überzeugt, dass Familie eine stärkere Kraft sein konnte als Hautfarbe. Das war der Grundgedanke. Deswegen haben sie uns so aufgezogen. Ein nobles Experiment. Vier Wahlmöglichkeiten, jede davon klar umrissen. Aber selbst das Klarste ist nicht unveränderlich.«
    Er richtete sich auf und hob die Arme über den Kopf, fasste nach hinten und berührte die Schulterblätter, die Stummel seiner gestutzten Flügel. So sehe ich ihn vor mir, wenn ich heute diese zweite Schallplatte anhöre. Ein Leuchten in den Augen, im Begriff ein Lied anzustimmen, in dem er sich verlieren kann.
    »Aber weißt du was, Muli? Es verändert sich nichts. Die Weißen wollen sich nicht verändern, die Schwarzen können es nicht. Sicher, die Weißen ziehen weg, wenn ein Schwarzer das Nachbarhaus kauft. Aber das ist auch schon alles. Ansonsten stehen die Rassen so fest wie die Pyramiden. Älter als alle Geschichte, für die Ewigkeit gebaut. Glaub mir, selbst die vier Möglichkeiten sind schon ein Witz. In diesem Land gibt es keine Wahl.«
    »Ruth hat einen Black Panther geheiratet.« Aber auch das hatte er irgendwie schon erfahren. Vielleicht hatte sie es ihm bei ihrem Treffen ge-sagt. Er nickte nur. Ich machte weiter, gekränkt. »Robert Rider. Sie ist jetzt auch dabei.«
    »Gut für sie. Jeder braucht sein Metier.«
    Ich zuckte zusammen bei dem Wort. »Sie hat den Polizeibericht. Über das Feuer, meine ich. Sie und ihr Mann ... Sie sind sich sicher. Sie sagen, wenn der – wenn Mama eine Weiße gewesen wäre ...«
    »Sie sind sich sicher? Gewissheit über alles, was wir längst wussten. Aber Gewissheit darüber, was sie umgebracht hat? Die werden wir nie bekommen. Das bedeutet Schwarzsein, Muli. Dass man niemals Gewissheit hat. Daran spürst du, wer du wirklich bist.« Er legte einen grässlichen kleinen Shuffle aufs Parkett, wie aus einer Minstrelshow. Früher hätte ich vielleicht versucht, es ihm auszureden. Ihn von sich selbst zu befreien. Jetzt wandte ich einfach nur den Blick ab.
    »Wenn für Pa und Mama die Familie wichtiger war als ...« Ich schmeckte die Galle in meinem Mund. »Warum zum Teufel haben wir dann nicht mal eine Familie?«
    »Von Mamas Seite, meinst du?« Er blieb stehen, ließ den Blick zurückwandern. Er als Einziger war alt genug, dass er sich an unsere Großeltern erinnerte. »Aus dem gleichen Grunde, aus dem Ruth sich abgesetzt hat, nehme ich an.«
    »Nein. Das ist nicht der Grund.«
    Jonah lächelte über diesen offenen Widerspruch. Er hielt die Hände aneinander, wie eine Kirchturmspitze, und legte sie an die Lippen. »Sie haben sich zerstritten. Das weißt du doch. Es gibt keine Gewissheit, Muli. Habe ich dir das nicht gesagt? Rasse ist stärker als Familie. Sie ist stärker als alles. Stärker als Mann und Frau. Stärker als Bruder und Schwester ...« Stärker als Zeichen am Himmel. Stärker als alles was wir wissen können. Und doch gab es etwas, das war so klein, dass es sich unbemerkt an der Rasse vorbeimogeln konnte. Jonah legte mir den Arm um die Schulter. »Komm, Bruder. Wir haben zu tun.«
    Wir kehrten ins Studio zurück und nahmen

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