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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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hatte, ließen die Kritiker kein gutes Haar daran. Das Libretto sei nichts sagend, ja gedrechselt und verlogen. Wenn man Bürgerrechte wolle, könne man die Zeitung lesen oder einen Ausflug in den Süden machen. In der Oper suche man das Drama der menschlichen Leidenschaften. Für alles andere seien die Tickets zu teuer.
    Die erste amerikanische Inszenierung der Heimsuchung fand an der Westküste statt, an der San Francisco Opera. Die Hauptrolle sang ein Tenor namens Simon Estes. Auf der anderen Seite der Bucht, an der sie das expressionistische Drama aufführten, hatten sich Huey Newton und die Polizei ihre Schießerei geliefert. Mit jeder neuen Inszenierung eines Werkes werden die Karten neu gemischt. Zwischen San Francisco und New York lagen mehr Welten als zwischen Kafka und den Bürgerrecht-lern. Die Westküstenkritiker waren begeistert, und für Mr. Estes, um einige Hauttöne dunkler als mein Bruder, war es der Beginn einer großen Karriere.
    Nicht dass die Karriere meines Bruders zum Stillstand gekommen wäre. Still stand nur die Zeit. Unsere zweite Platte kam heraus, und wochenlang wartete ich mit angehaltenem Atem. Nicht dass ich etwas auf Kritiker oder Verkaufszahlen gegeben hätte – mir wäre es am liebsten gewesen, sie wäre einfach in der Versenkung verschwunden. Jonah spürte meine Anspannung und lachte nur. »Was ist los, Joey? Welches Unheil haben wir diesmal über die Welt gebracht?«
    Ein Monat verging, und nichts geschah. Kein Erdbeben, ausgelöst von unseren harmlosen Schallwellen. Die Kerner-Kommission legte ihren Bericht über die Gewalt im Lande vor: »Unsere Nation entwickelt sich zu einer zweigeteilten Gesellschaft, einer schwarzen und einer weißen, getrennt und ungleich.« Doch diesmal blieben sogar die Städte ruhig, in denen sich unsere Platte gut verkaufte.
    Die Zeitschrift Gramophone brachte eine Besprechung der neuen LP und nannte es anmaßend, dass ein so junger, unerfahrener Mann sich an Schuberts Winterreise heranwage, »solange er nicht selbst in Hörweite dieser Jahreszeit« sei. Der Rezensent war der große Kenner der Gesang-kunst, Crispin Linwell. Linwells Artikel war von einer solch traum-wandlerischen Brutalität, dass er etwas in Gang setzte, was in der Welt der klassischen Musik einer Prügelei gleichkam. Die Kontroverse entwickelte ihre eigene Dynamik, und die Platte wurde in mehr großstädtischen Tageszeitungen besprochen, als ich es je für möglich gehalten hätte. Einige empörte Hüter der großen Kultur stießen ins gleiche Horn wie Linwell und nannten Jonah frühreif, wenn nicht gar unverschämt. Einige andere, selbst zu unerfahren, um zu wissen, in welchen Sumpf sie sich wagten, fanden Jonahs jugendliche Neuinterpretation des Zyklus ebenso aufregend wie Angst erregend. Ein Kritiker, der sich nicht nur mit der Platte, sondern auch mit der ganzen Kontroverse beschäf-tigte, wies daraufhin, dass Jonah Strom nur wenige Jahre jünger sei als Schubert selbst zu der Zeit, als er die Lieder komponierte. Wenn die Rezensenten überhaupt auf den Gesang eingingen, dann benutzten sie das Wort Perfektion wie einen sanften Tadel.
    Der Erste, der das Thema Hautfarbe in die Debatte warf, war ein Kritiker im Village Voice. Die Frage, wie Schubert angemessen zu interpretieren sei, zählte eigentlich nicht zu den Themen, mit denen sich diese Zeitung beschäftigte. Der Rezensent gab sich denn auch gleich zu Beginn als Jazzfreund zu erkennen, der Kunstlieder nur nach dem Genuss angemessener Stimulanzien erträglich fand. Aber um Schubert, so der Verfasser, gehe es auch gar nicht. Es gehe darum, dass das weiße Kulturestablishment versuche, einen begabten, jungen schwarzen Sänger zu denunzieren, nicht etwa weil er zu jung sei für die Werke der Meister, sondern zu anmaßend. Im Anschluss daran zählte der Autor ein halbes Dutzend weiße Sänger aus Europa und Amerika auf, die das Werk unter großem Beifall in noch jüngeren Jahren als Jonah interpretiert hatten.
    Ich zeigte Jonah den Artikel und erwartete einen Wutausbruch. Aber als er mit Lesen fertig war, kicherte er nur. »Ist er das? Er muss es sein. Dieser Tonfall? Die Geschichte, dass er Kunstlieder nur ertragen kann, wenn er was geraucht hat?« Ich hatte überhaupt nicht auf den Verfasser geachtet. Jonah gab mir die Zeitung zurück. »T. West! Wer sonst? Unser Thaddyboy. Dieser verdammte weiße Nigger.«
    »Sollen wir ihn anrufen? Ich habe seine Nummer von ... von früher.« Ein altes, uneingelöstes Versprechen. Aber Jonah

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