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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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verschwand alle Kompromissbereitschaft wieder, und er war entschlossener denn je. »Auf gar keinen Fall. Um keinen Preis der Welt.«
    »Jonah«, sagte ich, wollte ihn am Boden halten. Aber er schwebte schon.
    »Selbstmord für jede Karriere. Mag sein, dass Europäer so was schlukken. Aber hier hat es keine Chance. Hier sieht das aus wie ...«
    »Selbstmord? Deine Chance, vor Tausenden von Leuten zu singen? Besprechungen im ganzen Land? Jonah, die Leute können doch zwischen einem Sänger und seiner Rolle unterscheiden. Und selbst wenn ihnen das Stück nicht gefällt ...«
    »Die denken nicht daran. Ich höre schon genau, was sie sagen. Dafür zahlen wir doch kein gutes Geld. Muli, die Kunst kann dieses Land nicht mit seinen eigenen Waffen schlagen. Sie sollte es gar nicht erst ver-suchen.«
    Ich fragte nicht, was die Kunst stattdessen tun solle. Immer wieder kam mir Ruth in den Sinn, ich fragte mich, was sie wohl sagen würde, wenn sie hörte, dass ihr Bruder den Neger spielte, wie es für sie wohl klingen würde, im Vergleich zu dem noch viel kriminelleren Schubert. Nichts was Jonah jemals sang, würde einen Einfluss auf die Befreiung der Schwarzen haben. Ich überlegte, was für eine Musik die Panthers wohl hörten, im Autoradio, unterwegs auf heißem Asphalt, nachts in ihren Betten. Wie mein Bruder wussten auch Ruth und Robert zweifellos genau, wozu Kunst nicht da war.
    »Es könnte etwas nützen«, sagte ich zu ihm. »Etwas Gutes tun. Du könntest ... etwas verändern.«
    »Verändern?«, schnaubte er. »Was verändern?« Ich wandte den Blick ab. »Wohl kaum, Joey. Wer sollte das sein, den ich beeinflusse? Meinst du, eine Konzertbesucherin geht anders aus dem Saal, als sie gekommen ist, weil sie in der Musik etwas gehört hat? Sie hören nicht zu, Joey. Sie horchen nicht in sich hinein. Sie hören nur auf den, der singt. Sie wissen alles, nur nicht, wer sie sind. Und das ist der Denkfehler an diesem Stück hier. Es ist zu gut. Es ist zu ernsthaft. Es hat von seinen Zuhörern eine zu hohe Meinung.«
    »Das heißt, wenn sie dir Rodolfo angeboten hätten oder Alfredo –«
    »Oder Tristan. Genau das will ich sagen. Lasst mich singen, was ich ein Leben lang gelernt habe.«
    »Rodolfo? Nicht eine einzige Stunde hast du –«
    »Lasst mich die Sachen singen, die ich besser singen kann als jeder andere auf der Welt. Rollen, die auch ein anderer Tenor von meinem Kaliber angeboten bekäme. Wem würde ich denn damit schaden, wenn ich solche Rollen annähme?«
    »Wem würdest du schaden, wenn du diese hier annähmest?«
    »Diese hier? Den Neger?«
    »Es ist ein Unterschied, Jonah.«                                                   
    »Zweifellos. Zwischen was und was?«
    »Zwischen ... feiger Unterwürfigkeit und Kompromissen für die Kunst. Zwischen jemandem, der sein Leben selbst bestimmt, und jemandem, der den anderen seine eigenen Regeln aufzwingen will.« Ich war bereit, mich vor ihm zu demütigen, nur damit er eine Rolle annahm, von der ich überhaupt nicht wollte, dass er sie nahm. »Jonah, es ist nichts Schlimmes daran. Wenn man ein Teil von etwas ist. Wenn man wählen kann, ob man eher das eine oder eher das andere sein möchte. Wenn man irgendwo nach Hause kommt. Irgendwo hingehört.«
    »Hingehört? Ins große Depot der Negerrollen? Ein leuchtendes Vorbild für meine Leute vielleicht? Ein Vorkämpfer?« Seine Stimme klang entsetzlich. Mit dieser Stimme hätte er alles singen können. Jede Rolle, jede Tonlage.
    »Etwas anderes, als du jetzt bist.«
    Er nickte, aber es war keine Zustimmung. Er wollte nur verhindern, dass ich weitersprach, bevor er sicher war, wie er mich am besten vernichtete. »Warum bietet die Met mir diese Rolle an? Diese spezielle Rolle hier?«
    Gewissheit bekommst du nie. Das ist Schwarzsein. Ich ließ nicht locker. »Weil du sie singen kannst.«
    »Ich bin sicher, sie haben Dutzende von willigen Tenören in ihrem Stall, die diese Rolle auch singen können. Männer mit Opernerfahrung. Warum nehmen sie nicht die? Für Othello nehmen sie doch auch jemanden mit schwarzer Schminke, nicht wahr?«
    Ich hörte ein schmächtiges, durchsichtiges, beinahe blau schimmerndes Mädchen fragen: Ihr zwei, seid ihr Mohren? Es hatte sie niemals gegeben. Wir hatten sie erfunden. »Würdest du den Othello singen, wenn sie ihn dir anböten?« Auch Jonahs Gesicht müssten sie schwarz schminken, damit er echt aussah.
    »Ich lasse mich nicht auf einen Typ festlegen,

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