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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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hundertjährigen Lieder vor gut betuchtem Publikum spielte, Leuten, die sich freuten, dass wenigstens diese zwei Neger noch brav geblieben waren; an solchen Tagen kam es mir vor, als warte Ruth auf einen Brief von mir.
    Vier Wochen nach Abschluss der Plattenaufnahmen rief Mr. Weisman an. Er hatte ein Angebot von der Met. Jonah ließ sich in aller Ruhe die Einzelheiten durchgeben, als hätte er nie gezweifelt, dass dieser Anruf kommen würde. »Toll.« Es hätte nicht anders geklungen, wenn ihm gerade jemand fünfzig Prozent Rabatt auf seine nächste Wäschereirechnung geboten hätte. »An was denken sie?«
    Weisman sagte es ihm. Er wiederholte die Antwort laut für mich. »Poisson in Adriana Lecouvreur?« Ich zuckte mit den Schultern, hatte keine Ahnung. Die Oper war ein Vorzeigestück für Sopranistinnen. Kanarifutter nannten wir solche Sachen immer. Keiner von uns hatte sie sich je angehört. »Was ist das für eine Rolle ?«, rief Jonah in den Telefonhörer, nun schon deutlich lauter.
    Die Rolle, erklärte Mr. Weisman, spiele keine Rolle. Mit siebenundzwanzig werde mein Bruder mit Renata Tebaldi auf der Bühne stehen. Er, ein Liedersänger ohne nennenswerte Orchestererfahrung, habe sich zur Oper berufen gefühlt. Und die Welt der Oper sei bereit, ihm eine Chance zu geben.
    Jonah legte auf und löcherte mich. Aber ich wusste nichts. Wir holten den Opernführer aus dem Regal. Wir liefen zum Plattenladen, »The Magic Flute«, und kauften eine Billigausgabe, eine Aufnahme aus den Vierzigern mit angesehenen Sängern. Wir hörten uns die ganze Oper in einem Zuge an. Als die Platte auslief, sagte er: »Nennst du das etwa eine Rolle?«
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. »Andere Leute müssen ganz klein anfangen.«
    »Andere Leute singen nicht so gut wie ich.«
    »Sie fangen anderswo an. Du könntest auch draußen in Santa Fe singen. Du könntest am Lyric in Chicago singen oder an der Bostoner Oper oder in San Francisco.«
    »Eine ganze Reihe von Leuten hat in New York angefangen.«
    »Aber in der City Opera. Sieh es doch ein, du hast noch nie in einer Oper gesungen. Und dann willst du gleich einen Platz ganz oben. Du kannst doch nicht erwarten, dass sie dir die Hauptrolle geben.«
    »Hauptrolle muss es nicht sein. Aber ich spiele nicht den Statisten.«
    »Dann nimm diese Rolle und bring sie groß raus. Wenn sie sehen, was du kannst, bieten sie dir –«
    Er schüttelte den Kopf. »Du wirst das nie begreifen, was? Mit Unterwürfigkeit kommt man nicht weit. Diesem ganzen Getue. Wer als kleiner Fisch anfängt, der endet auch als kleiner Fisch, im Bauch eines anderen. Wenn du erst einmal vor ihnen zu Kreuze gekrochen bist, dann behan-deln sie dich ein Leben lang als Kriecher. Wem gehörst du, foey? Du gehörst zur Armee von Angsthasen, wenn du dich nicht wehrst. Mehr wollen sie doch nicht: Sie wollen sehen, wer du bist, sie wollen einschätzen, wie groß die Gefahr für die Hackordnung ist, die sie bestimmen. Wenn du dich erst mal als Diener hergibst, kannst du dich auch gleich aufhängen. Dann ist dein Leben – dein eigenes Leben – das Einzige, worüber du noch entscheiden darfst.«
    Er trug Mr. Weisman auf, der Met mitzuteilen, dass Poisson für seine Begriffe keine geeignete Rolle für sein Operndebüt sei. »Eine verdammte Beleidigung ist das«, erklärte er dem alten Herrn im Nadelstreifenanzug am anderen Ende der Leitung. Dann legte er auf. »Sie fürchten, meine Stimme ist zu rein. Sie fürchten, dass ich den Saal nicht füllen kann mit meinem leisen Liederinstrument. Wie klingt das für deine Ohren, Joey? Ich will's dir sagen. Meine Stimme ist zu weiß und ich bin zu schwarz. Poisson. Scheiß drauf.«
    In gewissem Sinne war ich froh über die Entscheidung. Keiner gab der Met einen Korb und bekam noch eine zweite Chance. Wir konnten so weitermachen wie bisher. Irgendwie würden wir es hinbekommen, dass Konzertreisen und Festivals und Stipendien genug zum Leben abwarfen. Der Naumburg-Wettbewerb stand an; den Preis konnte er einheimsen, wenn er sich nur ein wenig anstrengte. Irgendwas würden wir schon finden. Ich würde nebenher als Tellerwäscher arbeiten, wenn es sein musste.
    Aber Jonah behielt Recht. Die Met meldete sich wieder, und das schneller als selbst er erwartet hätte. Das kalkulierte Risiko, mit dem er das Musik-Establishment vor den Kopf stieß, zahlte sich offenbar aus. Sie kehrten mit weit höherem Einsatz ins Spiel zurück. Er konnte seinen großen Auftritt haben. Sie holten ihn nach ganz vorn

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