Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
Vom Netzwerk:
bevor ich auch nur eine einzige Rolle gesungen habe.«
    »Alle sind auf einen Typ festgelegt, Jonah. Jeder. So funktioniert der menschliche Verstand nun einmal. Nenn mir einen Sänger, der nicht für eine bestimmte ... Keiner ist einfach nur er selbst.«
    »Es macht mir nichts aus, wenn ich ein Neger bin. Ich will nur kein Negersänger sein.« Er griff in die Tasten, spielte vier Takte, die wie Col–trane klangen. Er hätte Klavier spielen können wie ein König, hätte er nicht so gut gesungen.
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Ich will nicht der Caruso des schwarzen Amerikas sein. Der Sidney Poitier der Oper.«
    »Du möchtest kein Mischling sein.« Ich saß mit ihm auf der obersten Stufe der Treppe zur Untergrundbahn, Kenmore Square, Boston. »Darauf läuft es doch hinaus.«
    »Ich will zu überhaupt keiner Rasse gehören.«
    »Das –« Beinahe hätte ich gesagt: Das ist die Schuld deiner Eltern. »Das ist ein Luxus, den sich nur ein reinrassiger Weißer leisten kann.«
    »›Ein reinrassiger Weißer?‹« Er lachte. »Ein reinrassiger Weißer. Ist das so etwas wie ein wohl modulierter Sopran?« Er lief im Käfig unseres Wohnzimmers auf und ab. Es hätte auch eine Betonzelle im Zoo in der Bronx sein können, mit nichts als einem Häufchen Stroh und einem Wassertrog. Er fuhr mit den Fingern über die Fugen zwischen den Backsteinen. Er hätte nicht aufgehört, bis die Kuppen wund waren, hätte ich ihn nicht am Handgelenk gepackt. Er ließ sich wieder auf den Klavierhocker fallen. »Joey, ich bin ein Trottel gewesen. Wo sind denn die Männer?«
    »Die Männer?«
    »Genau. Ich meine, wir haben die Price, die Arroyo, wir haben Dobbs, Verrett, Bumbry – all die schwarzen Frauen, die plötzlich aus allen Ecken des Landes auftauchen. Aber wo sind die Männer?«
    »George Shirley? William Warfield?« Aber selbst ich musste zugeben, dass ich mich an Strohhalme klammerte.
    »Warfield. Das wäre ein Beispiel. Hervorragende Stimme, und trotzdem hat die Oper dem Mann praktisch die Tür vor der Nase zugeschlagen. Beginne deine Karriere als Porgy, und kein Mensch wird je wieder etwas anderes in dir hören.«
    »Es passt einfach nicht zur schwarzen Kultur. Ich meine, welcher Schwarze will wirklich Opernsänger sein?«
    »Das gilt für die Frauen genauso. Und trotzdem tauchen sie auf, aus den unglaublichsten Gegenden – aus Georgia, Mississippi. Der hundertundelften Straße. Sie stehlen den anderen die Schau, es steht in keinem Verhältnis ...«
    »Das sind eben Diven. Bei Männern funktioniert das nicht. Denk doch an dich in Juilliard. Als Liedersänger warst du wunderbar. Kein Mensch hat etwas für dich im Opernfach getan.«
    »Genau das, genau das. Davon rede ich ja gerade. Und warum? Die Tür ist aufgebrochen, Recht und Ordnung nehmen sich endlich der Sache an, und da stehen sie oben auf der Bühne, der Weiße und die schwarze Frau, das ist doch, ja irgendwie pikant, auf eine nette altmodische Art, wie damals auf den Plantagen. Dieselbe Herrschaft, nur neu eingekleidet. Dann kommt ein kräftiger schwarzer Mann mit einer weißen Frau, ja was zum Teufel ist denn das? Jetzt aber Schluss, das Stück wird abgesetzt! Alles kommt nur darauf an, wer oben liegt und wer die –«
    »Jonah.« Ich konnte ihn nur mit großen Augen ansehen. »Warum ist es so wichtig? Wozu brauchst du diese Rolle? Du hast doch schon eine Karriere. Eine, von der die meisten Sänger nur träumen können, ganz gleich welcher Hautfarbe.«
    Er hielt in seinem Auf und Ab inne und stellte sich hinter mich. Er legte mir die Hände auf die Schultern. Ich hatte ein Gefühl, dass es das letzte Mal war. »Was habe ich denn schon, Joey? Vielleicht fünfzehn Jahre, bevor meine Stimme verbraucht ist?« Die Zahl schockierte mich, die groteske Übertreibung. Dann rechnete ich. »Ich wollte einfach gern mal ein bisschen Lärm zusammen mit anderen machen. Ein bisschen Harmo-nie, solange ich noch gut in Form bin.«
    Er lehnte das Angebot, den Neger zu singen, ab. Er war derjenige, der Nein sagte, im vollen Bewusstsein, dass es keine dritte Anfrage geben würde. Aber hätte er ja gesagt, so hätte er sich nur noch mehr versklavt. So blieb er wenigstens mit einer Hand an dem, was er für das Ruder hielt.
    Und er behielt Recht. Die Met brachte, nachdem die erste Wahl für die Hauptrolle abgesagt hatte, Die Heimsuchung gar nicht erst heraus. Die Oper kam mit der Originalbesetzung, die im Jahr zuvor in Hamburg Triumphe gefeiert hatte, nach New York. Genau wie Jonah vorausgesagt

Weitere Kostenlose Bücher