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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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»Die Krähe« in einem einzigen Durchgang auf – das eine Lied in der ganzen Aufnahme, das schon beim ersten Anlauf perfekt war. Immer wieder hörte Jonah sich das Band an, suchte nach der kleinsten Schwäche. Aber er fand keine.
     
    Eine Krähe war mit mir
    Aus der Stadt gezogen,
    Ist bis heute für und für
    Um mein Haupt geflogen.
     
    Krähe, wunderliches Tier,                                     
    Willst mich nicht verlassen ?                                 
    Meinst wohl bald als Beute hier
    Meinen Leib zu fassen ?                                       
     
    Nun, es wird nicht weit mehr gehn                          
    An dem Wanderstabe.
    Krähe, lass mich endlich sehn                              
    Treue bis zum Grabe!
     
    Er sang mit der Präzision eines Laserstrahls, doch zugleich löste seine Stimme jede einzelne Note auf, gab jeder einen Hauch Billie Holiday, wie sie über das Schlachtfeld eines Lynchmords ging. Mit seinem Gesang entlockte er diesen Worten ihr tiefstes Geheimnis.
    Am Abend des letzten Aufnahmetages verabschiedeten wir uns von den Technikern und traten hinaus in die Fremde unserer Heimatstadt. Midtown war ein Lichtermeer, gespeist von urzeitlichen Energien. Wir gingen die Sixth Avenue hinunter, in der Gegend der 30. Straße, tauchten ein in den geschäftigen Feierabendverkehr. Der Klang einer Sirene drang aus zehn Häuserblocks Entfernung herüber. Ich packte Jonah. Ich warf mich beinahe auf ihn.
    »Nur ein Streifenwagen, Joey. Hinter einem Einbrecher auf Spätschicht her.«
    In meiner Brust drehte es sich wilder als bei Schuberts Leiermann. Ich wusste, was kommen musste. Ich wartete nur, dass die Geschichte sich wiederholte, dass die nächste Runde begann, dass irgendwo in der Stadt der Aufstand losbrach. Ich wusste, was geschah, wenn wir seine Stimme für die Ewigkeit festhalten wollten. Wir gingen den ganzen Weg zu Fuß, vom Tonstudio bis zum Village. An diesem Abend heulten in New York nicht mehr Sirenen als an jedem anderen. Aber ich zuckte bei jeder zusammen, bis aus dem Amüsement meines Bruders Verachtung wurde. Als wir in Chelsea anlangten, stritten wir uns schon.
    »Watts war also meine Schuld? Das denkst du allen Ernstes?«
    »Das habe ich nicht gesagt. Das denke ich nicht.«
    An der 4. Straße ließ er mich stehen und machte sich allein davon. Ich ging zur Wohnung, blieb die ganze Nacht auf und wartete auf ihn. Er kam erst am nächsten Tag zurück. Und da war das Thema tabu. Nie wieder würde ich diese Art von Gespräch mit ihm führen. Nie fragte er, woher ich von Ruth gewusst hatte. Auch sie war jetzt tabu. Jetzt, wo wir über so vieles nicht mehr redeten, blieb mir endlos viel Zeit, über das nachzudenken, was ich ihm anvertraut hatte. Ich überzeugte mich davon, dass es kein Verrat an Ruth gewesen war. Sie hatte gewollt, dass ich es ihm sage. Sie hatte mich zu Stillschweigen verpflichtet, wie Jesus seinen Jüngern verboten hatte, von den Wundern zu erzählen, die er wirkte.
    Jedes Mal, wenn die Black Panthers Schlagzeilen machten, wurde mir flau im Magen; jedes Mal rechnete ich damit, dass Ruths oder Roberts Name unter den Opfern auftauchen würde. Huey Newton, der Parteigründer, wurde verhaftet und des Mordes an einem Polizeibeamten in Oakland bezichtigt. Ruth hatte mit dem Mann ungefähr so viel zu tun wie ich mit Präsident Johnson. Aber zwei Wochen lang quälte es mich, so als hätte sie irgendwie mitgeholfen, den Abzug zu drücken. Ein Mensch muss das Recht haben, sich zu verteidigen. Solange die Polizei uns nach Belieben abschießen kann.
    In Albany stürzte ein billig gebautes Regierungsgebäude ein. Niemand wurde verletzt, es gab keinerlei Hinweise auf einen Anschlag. Aber nervöse Politiker versuchten, den Einsturz mit den New Yorker Panthers in Verbindung zu bringen, die lautstark für ihre Rechte eintraten – der Sektion, die Ruth und Robert Rider aufbauen halfen.
    Ich hatte die Welt nie so recht verstanden, und mein eigenes Leben noch weniger. Aber jetzt war es Meyerbeer ohne Untertitel. Meine Schwester würde mir schreiben. Sie und ihr Mann würden nach einer Zeit des Straßenkampfs zur Besinnung kommen. Sie würden für Dr. King arbeiten. Solche Phantasien gingen mir Tag für Tag durch den Kopf, obwohl ich nie daran glaubte. Aber dann gab es auch die Tage, an denen ich unsere zarten

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