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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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jemand nach hinten kommen und uns beglückwünschen konnte.
    Fast im Laufschritt kehrten wir zu unserem College-Gästezimmer zurück. Fünf Jahre zuvor hätten wir den ganzen Rückweg lang übermütig gekichert, trunken vom Erfolg. Aber an diesem Abend waren unsere Gesichter ernst, gezeichnet von dem Überwirklichen, das wir erlebt hatten. Schweigend betraten wir das Gästehaus. Er hatte seine Schleife schon aufgezogen und den burgunderroten Kummerbund abgenommen, bevor wir auch nur im Fahrstuhl waren. Im Zimmer verlor er sich in Gin und Tonic und geschwätzige Fernsehshows. Eine Weile lang hatte er über dem Lärm des Daseins geschwebt. Dann stürzte er sich mit einem Kopfsprung wieder mitten hinein.
     
    Auch die Welt, in die wir zurückkehrten, zerfiel. Ich konnte Ursache und Wirkung, Vorher und Nachher nicht mehr unterscheiden. Robert Kennedy wurde erschossen. Wer konnte schon sagen warum? Der Krieg war verantwortlich – aber welcher? Weiterhin ernteten sie den Sturm. Unmöglich noch die Übersicht zu behalten, welche Zukunft sich da gerade entschied oder welche Rechnungen beglichen wurden. Von nun an würden alle wichtigen Entscheidungen von Scharfschützen gefällt. Paris kochte über, dann Prag, Peking, sogar Moskau. In Mexiko reckten zwei der schnellsten Männer der Welt auf dem olympischen Siegertrep-pchen in stummem Schrei ihre schwarze Faust in die Höhe, ein Zeichen für die ganze Welt.
    Im Spätsommer kam Chicago. Die Stadt hatte sich noch nicht von dem Befehl zum gezielten Todesschuss erholt. Am 18. August sollten wir auf einem Sommerfestival in Ravinia auftreten. Aus einem Gefühl heraus sagte Jonah ab. Vielleicht war es die Drohung der Hippies, sie würden das Leitungswasser der Stadt unter LSD setzen. Wir blieben in New York und sahen uns das Spektakel im Fernsehen an. Der Parteitag zum Präsidentschaftswahlkampf endete im Blutbad. Es kam, wie es in den letzten Jahren bei jeder Schlacht um unsere Seelen gekommen war: Sechstausend Soldaten wurden eingeflogen, ausgerüstet mit jeder erdenklichen Waffe vom Flammenwerfer bis zur Panzerfaust. »Das ist Demokratie«, sagte Jonah immer wieder mit einer Geste hin zum Fernsehschirm. »Aktives Wahlrecht.« Erfüllt von seiner eigenen Hilflosigkeit sah er zu, wie das Land in die selbst gemachte Hölle ging.
    Im Oktober stieg er aus. Er kam zu mir und hielt mir eine Einladung zu einem einmonatigen Aufenthalt in Magdeburg unter die Nase; die Reise sollte vor Weihnachten beginnen und bis ins neue Jahr dauern. »Das ist was für dich, Joey. Der tausendste Jahrestag der Ernennung zum Erz-bistum. Die ganze Stadt steht Kopf und feiert ihren einen Augenblick im Rampenlicht der Geschichte.«
    »Magdeburg? Da kannst du nicht hin.«
    »Was soll das heißen, ich kann da nicht hin, Bruder?«
    »Magdeburg ist in Ostdeutschland.«
    Er zuckte mit den Schultern. »Tatsächlich?«
    Vielleicht habe ich vom eisernen Vorhang gesprochen. So lange ist das schon her.
    »Ja und? Ich habe eine offizielle Einladung. Eine historische Feier. Ich bin praktisch Staatsgast. Ihr Auslandsamt, oder wie das heißt, besorgt mir ein Visum.«
    »Ich mache mir auch keine Sorgen, dass sie dich da nicht reinlassen. Ich mache mir Sorgen, dass sie dich hier nicht wieder zurücklassen.«
    »Wer käme denn auf so eine Idee?«
    »Ich meine es ernst, Jonah. Kollaboration mit dem Feind. Dafür hetzen sie dich für den Rest deines Lebens. Sieh dir doch an, was sie mit Robeson gemacht haben.«
    »Ich meine es auch ernst, Joey. Wenn sie mich hier nicht mehr haben wollen, bleibe ich drüben.« Ich konnte es nicht mit ansehen. Ich wandte mich ab, aber er drehte eine kleine Koboldpirouette, und schon hatte ich sein Gesicht wieder vor mir. »Liebe Güte, Muli. Das Land hier ist ein Trauerspiel. Warum würde denn jemand in so einem Scheißland leben wollen, wenn er nicht muss? Was habe ich denn hier für Chancen? Ich
    kann mich abrackern bis zum Umfallen, und wenn ich lange genug brav bleibe, bekomme ich meine Lizenz als offizieller schwarzer Künstler. Oder ich gehe nach Europa und singe.«
    Ich packte ihn bei den fuchtelnden Armen. »Setz dich hin. So. Bleib einfach sitzen. Du machst mich wahnsinnig.« An den Schultern drückte ich ihn auf den Klavierhocker. Ich zeigte mit dem Finger auf ihn wie ein Dirigent, der einen Musiker zur Ordnung ruft. »Nichts gegen Europa. Leute ... wie wir gehen in Scharen nach Europa. Deutschland, warum nicht? Für ein Weilchen. Aber geh nach Hamburg, Jonah. Geh nach München, wenn du

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