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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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vorhersehbaren Funk- der Folk-Akkorde nicht zu seinen Harmonien passten, verfluchte er die un-musikalischen Arrangements und drohte damit, den nächsten Plattenladen in die Luft zu sprengen.
    Der Krieg ergriff von uns Besitz. Alles wurde zur Volksabstimmung. Love-ins, Sit-ins, Haschpartys, das öffentliche Verbrennen von Wehrausweisen, Benefizveranstaltungen an der Upper West Side, in denen militante Kämpfer und unerschrockene Philanthropen Seite an Seite standen: Der Krieg war allgegenwärtig. Mein Bruder saß neben mir auf dem dick gepolsterten Beifahrersitz eines Chevrolet und sang seine eigene Melodie zu den Worten »There's something happening here«. Die alte Ordnung lag in den letzten Zügen; Hoffnung keimte auf, schwang sich empor und begann zu atmen. Mein Bruder summte eine Begleitung zu »Stop, hey, what's that sound«. Aber keiner konnte sagen, was das für Klänge waren und was für eine Zukunft sie einläuten wollten.
    Der Krieg nahm uns Phillipa Schuyler. Das erstaunliche kleine Mädchen, die robuste Kreuzung und gefeierte Heldin des Phillipa-Duke-Schuyler-Tags, deren Five Little Piano Pieces zu den ersten Klavierstücken zählten, die Jonah und ich je gespielt hatten, starb in Da Nang. Das musikalische Wunderkind verbrannte auf dem Rückweg von Hue bei einem Hubschrauberabsturz in der Kampfzone. Das Land hatte dieses Mädchen nur einen winzigen Augenblick lang geliebt, nur solange sie klein genug war und als Kuriosität durchging. Als es mit der Altklugheit vorbei war, wandten sich all diejenigen, die sich durch robuste Kreuzungen in ihrer Existenz bedroht sahen, mit der versammelten Kraft der Reinrassigen gegen sie. Sie floh nach Europa und spielte mit großem Erfolg vor gekrönten Häuptern und hohen Staatsmännern. Sie unter-nahm internationale Konzertreisen unter dem Namen Felipa Monterro, eine Frau ungeklärter Rasse, Nationalität und Geschichte. Sie veröffent-lichte fünf Bücher und schrieb Artikel in verschiedenen Sprachen. Sie arbeitete als Korrespondentin für eine Zeitung. Und fiel vom Himmel und starb bei einer erfolglosen humanitären Mission zur Rettung von Schulkindern, deren Dorf zu nah an der Front lag. Sie war sieben-unddreißig.
    Jonah war am Boden zerstört, als er davon hörte. Er hatte das Mäd-chen geliebt, allein ihrer Musik und der Erzählungen unserer Eltern wegen. Er hatte sich ausgemalt, wie sie eines Tages von ihm hören würde; sie würden sich treffen, und wer konnte sagen, was dann geschah? Das Gleiche hatte auch ich geglaubt.
    »Jetzt gibt es nur noch uns, Muli«, sagte er. Nur noch uns und Zehntausende wie uns, denen wir nie begegnet waren.
    Von Hue und Da Nang – Orten, die keiner unserer Atlanten verzeichnete – kam der Krieg zu uns nach Hause. In der Columbia-Universität endete eine vom SDS angeführte Demonstration damit, dass eine Gruppe von Zwanzigjährigen das Rektorat besetzte und dort eine autonome Volksrepublik ausrief. Auf diesem briefmarkengroßen Campus, wo unser Vater arbeitete, spielte sich eine Miniaturausgabe des jüngsten amerikanischen Unabhängigkeitskriegs ab. Ein halbes Dutzend Gebäude wurde besetzt, belagert und gestürmt, und der Kampf dauerte länger als der letzte Krieg zwischen Arabern und Israelis.
    Pa musste sich keine Sorgen um sein Forschungslabor machen. Er hatte seine Wissenschaft von jeher im Kopf mit sich herumgetragen. Doch nicht einmal den schützte er hinreichend. Er erfuhr erst von der Schlacht um Morningside Heights, als er am zweiten Tag das südliche Ende des Campus Walk entlangging und in der Ferne ungewöhnliche Bewe-gungen wahrnahm. Als guter Empiriker wollte er der Sache auf den Grund gehen. Wenige Minuten später war er mittendrin. Die tausend Polizisten, die die Studenten im Auftrag von Rektor Kirk vom Campus vertreiben sollten, erreichten damit genau das, was zu erwarten gewesen war: Tränengas, Steine, Schlagstöcke, Menschen, die in alle Richtungen flohen. Pa sah, wie ein Polizist auf die Beine eines am Boden liegenden Studenten einprügeln wollte und eilte hinzu, um Einhalt zu gebieten. Ein Stockhieb traf ihn ins Gesicht, und er ging zu Boden. Er hatte noch großes Glück, dass der aufgehetzte Polizist nicht auf ihn schoss.
    Sein Wangenknochen war zertrümmert und musste neu aufgebaut  werden. Ich wusste nicht, wie ich Ruth erreichen sollte und ob es sie  überhaupt interessiert hätte. Jonah und ich besuchten Pa nach der Operation im Krankenhaus. Auf dem Flur vor seinem Zimmer verstellte eine Schwester uns

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