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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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schwollen an wie das Rauschen des Meeres im Inneren einer Muschel.
    Die Technik diktierte nicht mehr, welche Töne er hervorbringen konnte und welche nicht. Er beherrschte die gesamte Palette des menschlichen Gesangs. Jede erpresserische Drohung, die er je erfahren hatte, gab ihm einen Gegenstand zum Singen, einen Grund zur Flucht. Den richtigen Ton hatte er schon immer getroffen. Aber jetzt kannte er die Bedeutung der Noten. In seinem Mund schwebte die Hoffnung, kauerte die Angst, jubilierte die Freude, zerfleischte die Wut sich selbst, erwachten Erinnerungen. Der Zorn des Jahres 1968 nährte ihn und fiel von ihm ab, erstaunt über das, was er daraus machte.
    Sein Gesang sagte: Halt. Die Entscheidung ist gefallen. Nur das Zuhören zählt. Ich musste mich zwingen weiterzuspielen. Ich stockte, segelte in seinem Kielwasser. Um ihm gerecht zu werden, um dem zu entsprechen, was ich hörte, übertrafen meine Finger sich selbst. Einen winzigen Augenblick lang war auch ich nicht mehr stumm, konnte den Weg beschreiben, den wir gegangen waren. Wenn ich so spielte, dann liebte ich Jonah, nicht weil er mein Bruder war. Ich liebte ihn – hätte mein Leben für ihn gegeben und hatte es ja längst getan –, weil er ein paar Momente der Ewigkeit lang frei war, dort auf der Bühne, an die Krümmung des Flügels gelehnt. Er streifte ab, was er war, was er wollte, die elende Hülle des Ichs. Sein Gesang erreichte eine überwältigende Gelassenheit. Für eine Weile konnte er allen, die zuhörten, beschreiben, was er dort draußen sah.
    Seine Musik war wie Seide auf Obsidian. Das minuziös geschnitzte Scharnier eines Elfenbeintriptychons, nicht größer als eine Walnuss. Ein Blinder an einer Straßenecke, verirrt in der winterlichen Stadt. Die trotzige Mondscheibe, gefangen im Astwerk einer wolkenlosen Nacht. Er legte alles in die Noten, sichtlich erregt über die Kraft dieses Schöpfungsakts. Und als er fertig war, als er die Hände sinken ließ und die Muskeln über seinem Schlüsselbein erschlafften – die Stelle, die ich immer im Auge behielt wie die Spitze eines Dirigentenstabs –, da vergaß ich, den Fuß vom Pedal zu nehmen. Statt den Deckel zu schließen ließ ich die Vibrationen des letzten Akkords Weiterreisen und wie den Nachhall seiner Worte in der Luft ihrem natürlichen Ende entgegenschweben. Das Publikum wusste nicht, ob die Musik vorbei war. Die dreihundert Konzertgäste aus dem mittleren Westen brachten nicht fertig, sich in das, was sie da gerade erlebt hatten, hineinzudrängen, es zu stören mit etwas so Banalem wie Applaus.
    Die Leute klatschten nicht. Nie vorher war uns so etwas passiert. Der Raum um Jonah wurde immer mehr zum Vakuum. Meinem Zeitgefühl kann ich nicht trauen; mein Verstand lief noch in dem Tempo, bei dem Dreißig-Sekunden-Noten dahinkriechen wie Luftschiffe bei einer Flugschau. Aber das Schweigen war vollkommen, es schluckte sogar das Knarren der Stühle, das dauernde Husten, das zur Kulisse jedes Konzerts gehört. Die Stille wuchs, bis jede Möglichkeit, sie noch mit Beifall zu füllen, verpasst war. In stiller Übereinkunft regte das Publi-kum sich nicht.
    Ein ganzes Leben – vielleicht zehn volle Sekunden – verging, dann entspannte Jonah sich und ging von der Bühne. Er ging direkt an mir vorbei und sah mich nicht an. Nach einer weiteren Ewigkeit, in der die Zeit wie eingefroren war, erhob ich mich von meinem Klavierhocker und folgte ihm. Ich fand ihn in den Kulissen stehen; er nestelte an den Zugseilen zum Schnürboden. Mein Blick sagte: Was ist da geschehen? Seiner antwortete: Ist mir doch egal.
    Und genau in dem Augenblick brach der Bann, das Publikum regte sich. Nachdem sie sich einmal für Stille entschieden hatten, hätten sie stillschweigend nach Hause gehen sollen, aber dazu fehlte ihnen der Mut. Der Applaus begann verhalten und unsicher. Aber bald machte die Lautstärke den zögernden Anlauf mehr als wett. Die bürgerlichen Anstandsregeln hatten auch an diesem Abend noch einmal gesiegt. Jonah wollte nicht zur Verbeugung hinausgehen. Er hatte genug von Columbus. Ich schubste ihn, dann folgte ich lächelnd mit einem Schritt Abstand. Sie holten uns viermal zurück auf die Bühne und hätten uns auch noch ein fünftes Mal geholt, doch nun weigerte Jonah sich wirklich. Nach dem dritten Applaus gab es sonst immer eine Zugabe, ein Bonbon. Aber an diesem Abend wäre das unmöglich gewesen. Wir wechselten nicht einmal die üblichen Blicke. Er zerrte mich zum Bühneneingang hinaus, bevor

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