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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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den Weg, bis wir sie davon überzeugen konnten, dass wir seine Söhne waren. Sie konnte es nicht glauben. Wir hatten nicht die gleiche Hautfarbe. Vielleicht hielt sie uns für die Schläger, die ihn so zu-gerichtet hatten, und dachte, wir seien gekommen, um das Angefangene zu Ende zu bringen.
    Pa war noch ganz benommen von der Narkose. Er schielte unter dem Verband hervor. Anscheinend erkannte er uns und versuchte, sich in seinem Krankenhausbett aufzurichten und zu singen. Er machte eine matte Handbewegung in Richtung auf seinen Mumienkopf und brummte: »Hat jede Sache so fremd eine Miene, so falsch ein Gesicht!« Hugo Wolfs »Heimweh«, ein Lied, das Jonah schon gesungen hatte, bevor der Text eine Bedeutung bekam.
    Jonah salutierte. »Wie geht es dem Mann mit dem eisernen Schädel? Fühlst du dich besser? Was sagen die Ärzte?«
    Wieder antwortete Pa mit einem Lied, diesmal war es Mahler:
     
    Ich hab' erst heut' den Doktor gefragt,
    Der hat mir's in's Gesicht gesagt:
    »Ich weiß wohl, was dir ist, was dir ist:
    Ein Narr bist du gewiss!«
    Nun weiß ich, wie mir ist!
     
    Er klang wie ein Schwarm Wildgänse auf dem Weg gen Süden. Der Ton schlug mir auf den Magen. Jonah gackerte wie ein Schwachsinniger. »Pa! Hör auf. Du darfst den Mund nicht bewegen. Sonst hält der Knochen nicht.«
    »Komm. Lass uns singen. Ein kleines Trio. Wo sind die Altstimmen? Altistinnen! Wir brauchen Altistinnen.«
    Jonah stachelte ihn nur noch weiter an, aber nach einer Weile beruhigte er sich. Er reckte den Hals und sagte »Meine Jüngele«, als seien wir gerade erst ins Zimmer gekommen. Er konnte den Kopf nicht drehen. Wir saßen an seinem Bett, solange Jonahs Geduld reichte. Als wir aufbrechen wollten, wurde Pa wieder munter. »Wohin geht ihr?«
    »Nach Hause, Pa. Wir müssen üben.«
    »Gut. Im Kühlschrank steht noch Suppe. Hühnersuppe von Mrs. Samuels. Und im Brotkasten ist Mandelbrot für euch. Das mögt ihr doch.«
    Wir sahen uns an. Ich wollte ihn bremsen, aber da platzte Jonah schon heraus: »Nicht das Zuhause.«
    Pa sah uns durch seinen Verband hindurch an und gab uns mit einer Handbewegung zu verstehen, dass wir die Witze lassen sollten. »Sagt eurer Mutter, mir geht es gut.«
    Draußen auf der Straße kam Jonah mir zuvor. »Das sind die Medikamente. Wer weiß, was sie ihm gegeben haben.«
    »Jonah.«
    »Hör zu.« Seine Stimme klang hart und bestimmt. »Wenn er seinen Posten verliert, dann können wir anfangen uns Sorgen zu machen. Vorher nicht.« Wir gingen schweigend bis zur U-Bahn. Schließlich fügte er hinzu: »Ich meine, in seinem Metier spielt es doch eigentlich keine Rolle, ob jemand eine Meise hat.«
    Wir spielten in Columbus, Ohio State, in einem winzigen, mit dunklem Holz getäfelten Saal. Es konnten nicht mehr als dreihundert Zuhörer sein, die Hälfte davon zum Studentenpreis, neugierig auf den viel diskutierten Sänger. Wir hätten mit der Reise Verlust gemacht, wären nicht noch Auftritte in Dayton und Cleveland dazugekommen. Jonah muss etwas gespürt haben, etwas von dem, was schon mit Riesenschritten auf ihn zueilte. Dort, zufällig in diesem Konzertsaal vor einem Publikum, das nicht wusste, wie ihm geschah, sang er eine Stunde und zehn Minuten lang, als sei er nicht von dieser Welt.
    Einmal als Kind, noch vor Mamas Tod, träumte ich, ich stünde auf der obersten Treppenstufe des Hauses in Hamilton Heights. Ich lehnte mich vor und hob mich unvermittelt in die Höhe. Ich konnte fliegen. Ich hatte schon immer fliegen gekonnt, ich hatte es nur vergessen. Ich musste mich nur einfach nach vorn beugen, dann geschah es von selbst. Fliegen war so einfach wie atmen, es war leichter als das Gehen in den Straßen, in denen meine Eltern mich absetzten. Und so sang Jonah an jenem Abend, gestrandet im tiefsten Ohio. Einem Eisvogel gleich stieß er aus luftiger Höhe auf die scheuesten Töne hinab und packte zielsicher seine silberne Beute. Seine Einsätze kamen präzise, jede Note sicher und klar. Stets wusste er, welchen Ton er auf einen Punkt zuspitzen und welchen er lang anhalten musste. Seine Stimme war schillernd und wandlungs-fähig wie ein Kolibri: Bald huschte sie hierhin und dorthin, bald schwebte sie reglos auf der Stelle, getragen von einem Flügelschlag, der selbst die Luft erstarren ließ. Sein Gesang breitete die Schwingen, war scharf wie eine Raubvogelklaue, ohne eine Spur von Anstrengung, ohne das leiseste Zittern. Seine Verzierungen waren so klar und eindeutig wie Gertenhiebe, seine langen Noten

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