Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
Vom Netzwerk:
vom Anzug und geht weiter. Aber wenn man sich das gefallen lässt, kann man auch gleich zulassen, dass sie einen in den Wandschrank sperren, im Bahnhof an den Stand des Schuhputzers ketten, zusammenschlagen, weil man in eine falsche Straße einbiegt, einen aufknüpften am erstbesten Baum. Da wird auch das standhafteste Ich irgendwann ans Licht gezerrt.
    David streift seinen Gebetsmantel des Schweigens ab und spricht. »Ich habe nachgedacht. Über das was geschehen ist. Es ist ein statistischer Irrtum.«
    William richtet sich kerzengerade auf. »Was soll das heißen?«
    »Das sind Leute, die schnell verurteilen.«
    Dr. Daley starrt ihn an. Dann wendet er sich ratlos an seine Tochter. Sie macht einen Schmollmund. »Vorschnell urteilen.«
    »Ja. Sie urteilen, bevor sie sehen. Kurzschlüsse. Sie sehen nicht die Fakten, sie urteilen nach dem, was ihnen das Wahrscheinlichste ist. Kate-gorisch. So funktioniert der menschliche Verstand. Das können wir nicht ändern. Aber wir können die Kategorien ändern.«
    »Wahrscheinlichkeit, Unsinn. Nichts als blanker Hass. Zwei Spezies. Das ist alles was sie sehen. Darauf kommt es an, auf die Spaltung. Und die wird ihnen verflucht nochmal gelingen. Sie haben nicht gesehen was ich anhatte. Sie haben nicht gehört wie ich rede. Ich habe ihnen ganze Kapitel aus ihrem Scheiß -Ärztehandbuch rezitiert ...«
    »Mein Vater hat mir gesagt, so etwas kommt vor.« Ihre Stimme spinto, bebend vor Erregung. Sie will nur noch heil aus dieser Sache heraus. »Mein Vater hat mir beigebracht, dass ich mich durchbeißen muss. Dass ich so groß sein muss, dass sie mich nicht wegschubsen können.«
    »Und was wirst du deinen Kindern sagen?«
    Jonah sucht sich diesen Augenblick zu seiner Rückkehr aus. Und wo er auftaucht, ist Joey nicht weit. Zwei verirrte Kinder im Wald, bahnen sich einen Weg durch das undurchdringliche Dickicht der Erwachsenenwelt. William Daley fasst den älteren Enkel an den Schultern. Im Lampenlicht findet er den Beigeton des Jungen unbegreiflich. Irgendwo zwischen darf rein und mal schau 'n. Eine schräge Harmonikanote, weder fis noch f. Da-zwischen, wie die Skala des Radios, die man um Millimeterbruchteile verstellen muss, um einen von zwei sich überlagernden Sendern zu empfangen. Wie eine geworfene Münze, die unbegreiflich auf der Kante stehen bleibt, bevor die Gesetze der Wahrscheinlichkeit sie dazu verdammen, auf die eine oder auf die andere Seite zu fallen. Er sieht diesen Jungen an und sieht ein Geschöpf aus der Zukunft. Eine Erinnerung stellt sich ein, ein nutzloser Aphorismus, den er einmal im Ödland Emersons gefunden hat: »Jedermann sieht einen Engel in seinem zukünftigen Ich.«
    »Joseph«, sagt er.
    »Jonah.« Der Junge kichert.
    Wütend sieht der Doktor seine Tochter an. »Warum zum Teufel hast du beiden den gleichen Namen gegeben?« Und zu dem Jungen sagt er: »Jonah, sing mir etwas vor.«
    Jonah stimmt einen langen, traurigen Kanon an. »An den Wassern, den Wassern von Babylon, standen wir und weinten, und weinten um dich, Zion.« Der Himmel weiß, was er sich bei diesen Zeilen denkt. Joey, ein Jahr jünger, hört, dass es ein Kanon ist, wartet und setzt auf den Punkt genau ein, wie er es Abend für Abend mit seinen Eltern tut. Aber am heutigen Abend stimmt keiner von beiden ein, und der Kanon bricht nach nur zwei Runden ab.
    »Singt mir noch etwas«, ordnet Opapa an. Und die Jungs präsentieren ihm mit Freuden einen weiteren Kanon: »Dona nobis pacem.« William hebt den Finger in die Höhe, zwingt sie schon zum Innehalten, bevor das dritte Wort heraus ist. »Was ist mit unserer eigenen Musik?« Er sieht die Jungen an, aber die Antwort kommt von ihrer Mutter.
    »Was heißt denn schon ›unsere Musik‹, Daddy? Was ist die Musik des gebildeten Zehntels, der schwarzen Aristokratie? Der am meisten ver-achteten Menschen im am meisten verachteten Volk der Erde?«
    Er verfällt in Predigerton. »Schon vor den Pilgervätern«, sagt er und betrachtet weiter seine Enkel, »waren wir hier und haben unsere Musik gemacht.«
    »Aber wir, wann hat die Musik zu uns gehört? Unserem Haus, unserer Familie? Welche Musik war denn wirklich unsere? Ich hatte Mamas Kirchenlieder, das ganze Gesangbuch. Und einen Stapel Schellackplatten von dir, ›Meisterwerke der Klassik‹. Heimlich habe ich zusammen mit Charlie die verruchten Klänge aus New York und Chicago gehört. All die Sachen, die du uns verboten hast. Die wir im Radio nicht hören durften. ›Wenn ihr klingt wie Wilde, dann

Weitere Kostenlose Bücher