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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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entstehen, das keine Erinnerung daran hat, von wo es kommt, keinen Gedanken an alles, was auf dem Weg dorthin geschehen ist. Kein Diebstahl, keine Versklavung, kein Mord. Etwas wird gewonnen und vieles verloren, wenn die Zeit aufhört zu sein. Aber noch ist es nicht soweit. William Daley betrachtet diese beiden Jungen mit ihren musikalischen Kunststückchen. In diesem Blick steckt jeder Ton, den die Musik verschweigt. Er schüttelt den Kopf mit weiten, ungläubigen Bewegungen. Die Jungen erwarten, dass er begeistert ist, vielleicht sogar verblüfft, wie jeder Erwachsene, dem sie bisher vorgespielt haben. Sie klettern von der Bank und suchen sich neue Beschäftigung. William starrt seine Tochter an, so wie er einst seinen Sohn Charles anstarrte, wenn er schwarze Musik auf dem Wohnzimmer-klavier spielte. Der Blick bohrt sich tief in sie: ihr Bundesgenosse, ihr Ankläger. Alles was du willst. Lautete so nicht das Credo? jedem Herrn ebenbürtig. Jederzeit dein eigener Herr. Dr. Daleys Kopf hält drohend in seiner Bewegung inne. »Was habt ihr mit ihnen vor?« Er könnte alles meinen. Alles was du willst.
    Delia erhebt sich und räumt den Tisch ab. »David und ich haben beschlossen, dass wir sie zu Hause unterrichten.« Bis zum Satzende ist sie schon fast in der Küche.
    »Was du nicht sagst.«
    »Wir haben lange überlegt, Daddy.« Sie kehrt zum Tisch zurück. »Wo können sie mehr lernen als hier? David weiß alles über Mathematik und Naturwissenschaften.« Sie macht eine Handbewegung zu ihrem Mann, der es mit einem Nicken quittiert. »Ich bringe ihnen Musik und Kunst bei.«
    »Bekommen sie auch Geschichtsunterricht?« Ein Satz wie ein Peitschenhieb, und alles, was er unter Geschichte versteht, steckt schon darin. Seine Finger krampfen sich um das Wasserglas, damit seine Toch-ter es ihm nicht fortnehmen kann. »Wo sollen sie lernen, wer sie sind?«
    Lautlos sinkt sie wieder auf ihren Stuhl. Sie geht ganz in dieser Rolle auf, so wie Mr. Lugati es ihr für die Bühne beigebracht hat. Wir arbeiten hart, wir machen unzählige Proben, damit wir die innere Ruhe finden können, die uns frei macht für den Auftritt. Sie greift tief zurück in ihre Erinnerung, damit sie diesen Atem, diese Luftsäule wieder findet. »Da wo ich es auch gelernt habe, Daddy. Da wo du es gelernt hast.«
    Seine Augen schleudern Blitze. »Weißt du, wo ich gelernt habe, wer ich bin? Wo ich es gelernt habe?« Er wendet sich an David, der es anderswo gelernt hat. Und das, begreift Delia jetzt, ist sein unverzeihliches Ver-brechen. »Du hast vorhin nach dem Kongress gefragt? Du wolltest wissen, wie es mir auf dem Kongress ergangen ist?«
    David sieht ihn fragend an. Hier geht es nicht mehr um Immunologie. Nicht um Antibiotika.
    »Ich wünschte, ich könnte es euch erzählen. Aber ihr müsst wissen, den größten Teil davon habe ich verpasst. Ich durfte unten im Foyer bleiben, zuerst vom Hausdetektiv festgehalten, dann von einer kleinen, aber tüchtigen Polizeieskorte. Sicher ein Missverständnis. Ich konnte doch wohl kaum Dr. William Daley aus Philadelphia, Pennsylvania sein, denn Dr. Daley ist ein richtiger Arzt mit Brief und Siegel, und ich bin ja nur ein Nigger, der aus Dickköpfigkeit in eine Versammlung von kulti-vierten Medizinern will.«
    »Daddy. Das Wort sagen wir hier im Haus nicht.«
    »Nicht? Deine Jungs werden es aber schon lernen müssen, irgendwann zwischen zwei hübschen vierstimmigen Chorälen. Alles was das Wörter-buch dazu weiß. Verlass dich drauf. Heimunterricht!«
    Ihr Haus steht in Flammen. »Daddy, ich ... ich verstehe dich nicht. Du hast mich doch selbst im Glauben erzogen, dass ich ...«
    »Das ist wahr, junge Dame. Ich habe dich erzogen. Da sind wir uns einig.«
    Sie sieht ihre helle Haut, gespiegelt im Braun seiner Augen. Hat er es vergessen? Glaubt er wirklich, sie ist eine Weiße geworden, eine Überläuferin zu etwas, das genauso eine Erfindung ist wie das, was ihnen auferlegt ist?
    »›Du bist Sängerin‹«, sagt sie. »›Du wirst deine Stimme ausbilden. Du sorgst dafür, dass du so verdammt gut wirst, dass sie nicht anders können – dass sie dir zuhören müssen.‹«
    Er macht eine ärgerliche Bewegung. Da hast du es doch! »Seit fünf Jahren bist du mit der Ausbildung fertig. Was ist aus deiner Karriere geworden?«
    Sie prallt zurück, als hätte er sie geohrfeigt.
    »Sie hat viel zu tun«, antwortet David. »Sie ist Ehefrau, Mutter von zweien. Und ein drittes ist unterwegs.«
    »Und was macht deine Karriere? Dich

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