Der Klang der Zeit
schläft. Ich kann natürlich nicht schlafen, nicht wo es den Erwachsenen so schlecht geht. Opapa geht im Esszim-mer auf und ab, ein Riese im Käfig. Er schlägt mit der flachen Hand an die Wand. Eine Zeit, in der die Farbe nicht mehr zählt. In der deine eigene Mutter nicht mehr zählt. Deiner Brüder und Schwestern. Eine Zeit, in der ich nicht mehr zähle!
Mama regt sich nicht. So meinen wir das nicht, Daddy. Was wir tun, ist etwas anderes.
Und was tut ihr? Was steht auf ihrer Geburtsurkunde? Glaubt ihr, darüber könnt ihr euch hinwegsetzen ?
Mehr Worte fallen, Worte, die ich nicht höre, nicht verstehe, an die ich mich nicht erinnere. Worte schlimmer als Wut. So messerscharf, dass sie durch jede Haut gehen. Dann steht mein Großvater in der Wohnungstür. Die Tür ist offen zum Septemberabend, ein schwarzes, kaltes Loch. Niemals, sagt er. Und was kann danach noch kommen? Wenn ihr es so wollt, ist das eure Sache, sagt er. Ich kann es nicht begreifen. Mama sagt etwas, dann sagt Pa etwas, und Opapa sagt: Wie könnt ihr es wagen ? Und dann ist er fort.
Ich weiß nur noch, wie meine Eltern sich von der zugeschlagenen Tür abwenden, beide am ganzen Leibe zitternd. Ich sehe sie, wie sie mich sehen, in der Zimmertür, meinen Eisbeutel in der Hand. Ich halte ihn hoch, weil sie ihn doch brauchen.
Danach ist Mama lange Zeit krank. Sie hat einen dicken Bauch und bekommt wieder ein Baby. Wie hypnotisiert sehe ich zu, wenn sie isst. Sie beobachtet mich, sie weiß, was ich denke, und versucht zu lächeln. Jetzt wo sie beschlossen hat, dass sie noch ein Baby haben will, muss sie es füttern. Das Baby sitzt im Bauch und bekommt von allem etwas ab.
Etwas ist aus unserem Leben verschwunden und ich weiß nicht was. Ich stelle mir vor, dass das Baby es wieder zurückbringt. Deshalb wollen sie es haben. Damit Mama wieder glücklich wird und alles, was zerbrochen ist, wieder heil.
Ich frage, was für ein Baby es wird. Wie meinst du das?, fragen sie zu-rück. Ob es ein Junge oder ein Mädchen wird? Sie erklären mir, dass man das noch nicht wissen kann. Weiß es denn nicht, was es wird?, frage ich.
Sie lachen. Doch, das Baby weiß es. Aber wir können ja nicht hineinsehen. Wir müssen abwarten, bis es kommt.
Wir warten bis Oktober, dann November, seltsame Gegenden mit noch seltsameren Namen. Mir ist ganz elend von so viel Warterei. Ist es immer noch nicht da? Kommt es denn nie raus?
Morgen vielleicht, sagen sie. Warte mal bis morgen.
Und ein paar Mal jeden Tag frage ich: Ist denn immer noch nicht morgen?
Wochenlang lässt das Morgen auf sich warten. Und dann, über Nacht, ist es plötzlich gestern. Alles Vergangenheit, unerreichbar fern. Und mein Vater liegt auf einem Bett im Mount-Sinai-Krankenhaus im Sterben. Nur eines muss ich noch von ihm wissen – er muss mir sagen, was an jenem Abend geschehen ist. Aber er ist zu krank, zu wirr von den Medikamenten, zu schwer von der Erde – und dann zu leicht, zu frei –, um sich noch zu erinnern.
LIEDER EINES FAHRENDEN GESELLEN
Jonah verließ die Vereinigten Staaten Ende 1968. Kein Feuilleton vermel-dete seinen Aufbruch. Zu einem Zeitpunkt, zu dem fast jeder andere schwarze Sänger, Schauspieler, Schriftsteller oder Künstler die Geburt einer eigenen Nation feierte, ließ mein Bruder das Land im Stich. Er schrieb aus Magdeburg. »Die Leute lieben mich, Joey.« Er klang wie Robeson auf seiner ersten Reise in die Sowjetunion. Alles war besser als das Leben in Amerika. »Die Ostdeutschen sehen mich an und sehen einen Sänger. Ich habe nie diesen Blick verstanden, mit dem Amerikaner mich immer angestarrt haben – erst jetzt, wo ich erlebe, dass es auch anders sein kann, begreife ich das. Schön, wenn man wenigstens für eine Weile mal etwas anderes ist als eine Farbe.«
Was er über die Magdeburger Festspiele schrieb, hörte sich nach einem Pfadfinderlager für Künstler an. »Die Unterbringung ist ein wenig spar-tanisch. Mein Zimmer erinnert mich an unsere Bude in Boylston, nur dass ich hier nicht deinen Krempel wegräumen muss.« Das von dem Mann, dem ich in all der Zeit, die wir zusammenwohnten, die Wäsche gewaschen hatte. »Das Essen besteht hauptsächlich aus den hartnäk-kigeren Gemüsesorten, die gekocht werden, bis sie allen Widerstand aufgeben. Doch der unerschöpfliche Vorrat an kunstsinnigen Frauen entschädigt für alle Entbehrungen. Das nenne ich Kultur.«
Er schwärmte von der Musik, von all den Weltklassesängern, die zu der Feier zusammengekommen
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