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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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ringt, ob er den großen Ärztekongress zu neuesten Entwicklungen der Immunologie und Antibiotik besuchen soll, eine Ver-anstaltung des Mount-Sinai-Krankenhauses und der Columbia-Univer-sität. So kann er Arbeit und Vergnügen verbinden, ganz nach seinem praktischen Geschmack. An einem Septemberabend trifft er bei ihnen ein. Beim ersten Klopfen springen Jonah und Joseph auf und stürmen zur Tür. Sie rufen »Opapa« aus voller Kehle; schon den ganzen Tag haben sie auf seine Ankunft gewartet. Delia sieht ihnen vom anderen Ende des Flurs nach, wie sie darum rangeln, wer ihrem Großvater die Tür aufmachen darf. Joseph schont das verletzte Bein noch ein wenig. Aber vielleicht bildet sie sich das auch ein. Sie steht da mit Schaumlöffel und Kelle, aber im Nu sind die Hände frei, und sie eilt ebenfalls zur Tür, zwei Schritt hinter ihren Jungen.
    Sie spürt den Zorn, als ihr Vater eintritt. Zuerst denkt sie: Die Bombe, die moralischen Fragen, die er mit David diskutieren will. Aber es geht um etwas, das sie viel unmittelbarer betrifft. Er beugt sich nicht zu den Jungen hinunter, er nimmt sie nicht in den Arm. Er gestattet ihnen gerade einmal, dass sie sich an sein Bein klammern, dann schreitet er den Korridor hinunter, die Rechtschaffenheit in Person.
    Sie hat so etwas schon oft miterlebt, öfter als ihr lieb ist. Schon als sie nicht älter war als Joseph jetzt. In den Augen ihrer Jungen sieht sie, wie das Gift bereits seine Wirkung tut: Was haben wir ihm denn getan ? Die Frage, auf die auch sie nie eine Antwort fand. Jetzt sind ihre Jungen an der Reihe, unter dem Erbe zu leiden, vor dem sie sie nicht schützen kann.
    Ihr Vater nähert sich, und sie will ihn umarmen. Er gibt ihr nur einen flüchtigen Kuss aufs Kinn. Sie spürt, wie er sich an das letzte bisschen Würde klammert, das so mächtig in ihm wirkt, spürt, wie er versucht, seine Wut hinunterzuschlucken, eine Zyanidkapsel wie ein Agent, der hinter feindlichen Linien gefasst wird. Aber sie weiß, das wird ihm nicht gelingen. Er wird kämpfen und scheitern, genauso spektakulär wie die Welt in seinen Augen gescheitert ist. Aber fragen kann sie ihn nicht; sie kann nur mitspielen, eine freundliche Miene dazu aufsetzen, auch wenn sie insgeheim wartet, dass der Sturm losbricht.
    Es dauert bis nach dem Essen. Das Mahl selbst – Truthahn, Broccoli, Zuckermais – verläuft höflich, wenn auch angespannt. David merkt es nicht, oder er ist raffinierter als Delia gedacht hat. Er fragt nach dem Kongress, und William antwortet im Telegrammstil. Stattdessen spricht er von dem Chaos, das sie in Potsdam angerichtet haben, und von Tru-mans aussichtslosem Programm zur Bekämpfung des Elends. David kann nur hilflos grinsen, er weiß über beides nicht das Geringste. Delia spürt, wie beide das Thema Japan vermeiden, den Schatten der Bombe, die Morgenröte des neuen Zeitalters. Den Fall, der an diesem Abend eigentlich verhandelt werden soll.
    Nach dem Apfelkompott stehlen ihre Söhne sich zum Stutzflügel, Dr. Daleys Hochzeitsgeschenk und mit Abstand ihr liebstes Spielzeug. Sie klimpern Tonleitern. »Spielt mir ein schönes altes Lied«, sagt Dr. Daley. »Das könnt ihr doch, oder? Ihr zwei spielt jetzt mal etwas Feines für euren Opa.«
    Die beiden Jungs – vier und drei – schwingen sich auf die Klavierbank und spielen einen Bachchoral: »O Ewigkeit, du Donnerwort.« Jonah be-kommt natürlich die Melodie. Joseph steuert den Bass zu. Zwei Jungen erforschen spielerisch das Geheimnis der Harmonie, haben ihren Spaß an der vorübergehenden Dissonanz, toben in dem Gewirr der ver-schiedenen Stimmen, trollen durch die Transformationen. »O Ewigkeit, du Donnerwort, O Schwert, das durch die Seele bohrt, O Anfang sonder Ende! O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit, Nimm du mich, wenn es dir gefällt, Herr Jesu, in dein Freudenzelt.« Niemand im Zimmer kennt den Text. Heute geht es nur um die Töne. Die Jungen spielen ihre Läufe, kommen sich in die Quere, treten einander an die baumelnden Schienbeine, lehnen sich zurück bei den schnellen Passagen, beugen sich übermütig vor bei der kleinsten Verlangsamung, sind ganz in der Musik zu Hause. Die Musik steckt in ihnen. Einfach in ihnen, eine aufblühende Chrysan-themenblüte der Töne. Es macht sie glücklich, jeder von ihnen jongliert mit seiner Melodie, und doch treffen die einzelnen Linien sich immer wieder an den richtigen Stellen. Atmen diesen perfekten Abschluss eines Tages, der keinem gehört.
    Irgendwann wird ein Abend kommen, ein Leben

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