Der Klang der Zeit
dürft ihr euch nicht wundern, wenn sie euch auch wie Wilde behandeln.‹ Ich wusste, welche Musik dir Angst machte, und von welcher du dachtest, du müsstest sie kennen. Aber außer ein paar alten Ragtimes, die du gespielt hast, wenn du dachtest, es höre dich keiner – ach was habe ich mich immer gefreut, wenn du die gespielt hast! –, außer diesen Ragtimes hätte ich ja gar nicht sagen können, welche Musik du mochtest. Ich wusste überhaupt nicht, dass du ...« Sie wies auf das Spinett, den rauchenden Colt.
»Ihr wollt, dass diese beiden Jungen singen? Ihr wollt, dass die beiden Freude haben ... Dieser hier.« Er zeigt auf den dunkleren, macht eine ausgreifende Bewegung, schiebt die Schrecken zukünftiger Zeit weit fort. Er bringt es nicht über sich, seiner eigenen Zukunft ins Auge zu blicken. »Diesem Jungen hier werden sie den Weg verstellen, in fünfundzwanzig Jahren. Er will ein Konzert besuchen. Aber sie sagen ihm, das müsse ein Irrtum sein. Er wolle sicher zur Bühne am anderen Ende der Stadt. Was da drin zu hören ist, das sind nicht seine Lieder. Das sind schwierige, kultivierte Klänge. Die könnte er ohnehin nicht verstehen.«
»›Dein ist, ja dein, was du gesehnt, dein, was du geliebt, was du gestritten!‹« Worte als kämen sie von nirgendwoher, von keinem Menschen.
Dr. Daley dreht sich zu ihr um, nimmt die Herausforderung an. Früher hätte er gefragt, von wem diese Zeilen stammten. Jetzt fragt er: »Wer hat dich auf solche Gedanken gebracht?«
Delia erhebt sich, als sei der Tag der Auferstehung schon gekommen. Sie schwebt zu ihrem Vater hin. Bevor er zurückweichen kann, steht sie schon hinter ihm, eine Hand auf seine angespannte Schulter gelegt, die andere fährt über den kahlen Fleck auf seinem ehrwürdigen Schädel. »Was gefällt dir, Daddy? Welche Musik möchtest du hören?«
»Welche Musik ich mag?«
Sie nickt, lächelt durch die Tränen. Summt leise ein paar Töne. Bereit wieder sein kleines Mädchen zu sein, auf sein erstes Zeichen hin.
Er überlegt so lange, er geht in Gedanken den ganzen Katalog durch. »Ich wünschte wirklich, es ginge hier um Musik.« Nur aus Verwirrung lässt er es zu, dass sie ihn streichelt. »Du hast deine Babys genau zwischen den Rassen ausgesetzt, nicht wahr? Mitten im Niemandsland.«
Sie steht da, umgeben von einer unwirklichen Ruhe. »Wir waren schon immer im Niemandsland, Daddy. Seit jeher.«
»Nicht immer.«
Und dann ihr Fehler: »Jeder hat sein eigenes Niemandsland. Alle stehen zwischen den Rassen.« Sie versucht etwas vom Südstaatenton ihrer Mutter hineinzulegen.
Aber ihr Vater antwortet mit einer Heftigkeit, dass sie ihn vor Schreck abrupt loslässt. Er fährt sie an, wenn auch leise und besonnen. »Nein, meine kleine Opernsängerin im Niemandsland. Nicht alle. Manche Leute sind nicht einmal das, was sie sind. Meinst du, nur weil ihr Vater ein Weißer ist, wird die Welt –«
»Ein Weißer?« Jonah kichert. »Ein Mann kann doch nicht weiß sein! Wie ein Gespenst, meinst du?«
William Daley starrt Delia an, fassungslos. Sein Gesicht, gramverzerrt, wartet auf Erklärungen. Aber wie erstarrt von diesem pianissimo, von der Wirkung ihrer Worte, bleibt sie stumm.
Der Junge ist übermütig. »Ein weißer Mann. Du erzählst einen Blödsinn.«
»Sing doch noch etwas für deinen Opapa«, sagt seine Mutter. »Sing ›Herr, erleuchte meine Seele‹.«
»Was bringst du den Kindern bei?« Eine Stimme, die wie aus der Tiefe der Erde empordringt. Eine Stimme, die alle Lieder verstummen lässt. Die Stimme Gottes, die sich zu Adam und Eva erhebt und fragt, ob sie wirklich glaubten, sie könnten etwas vor ihm verbergen. Ihr Verstand löst sich aus der Blockade. Adam und Eva, geht ihr auf: Die beiden müssen doch auch ein gemischtes Paar gewesen sein. Wie hätten sie sonst die Völker der Erde hervorbringen können?
»Wir haben uns unsere Gedanken gemacht, Daddy.«
»Tatsächlich. Ihr habt euch Gedanken gemacht. Und was ist bei diesen Gedanken herausgekommen?«
David befreit sich aus dem Dickicht. Er beugt sich vor und will ihre Überlegungen erläutern. Aber Delia hebt die Hand, gebietet Schweigen. Jederzeit dein eigener Herr. »Wir haben beschlossen, die Kinder jenseits aller Rasse zu erziehen.«
Ihr Vater dreht sich um, reibt sich die Ohren, als sei er plötzlich taub geworden. Der Schlag dröhnt noch in seinem Kopf. »Kannst du das noch einmal sagen?«
»Heute in einem Vierteljahrhundert«, hebt David an. Beide Neger achten überhaupt nicht auf
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