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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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ihn.
    »Wir haben einen Entschluss gefällt.« Jedes dieser Worte klingt, selbst für Delia, zu stark betont. »Wir entscheiden nicht für sie. Das sollen sie später selber tun.« Alles was sie sein wollen. »Wir erziehen sie für eine Zeit, in der die Farbe nicht mehr zählt.«
    »›Die Farbe nicht mehr zählt.‹« Der Doktor horcht die Worte ab, sagt sie sich laut vor, so wie er sich die Symptome eines Patienten einprägt. »Das heißt, du willst sie als Weiße erziehen.«
    Die Jungen haben das Interesse verloren, wenn sie je welches hatten. Sie spazieren wieder an den Stutzflügel und wollen noch einen Choral spielen. Delia hält sie davon ab. »Nicht jetzt, Jojo. Warum geht ihr zwei nicht ein Weilchen auf euer Zimmer und spielt da?«
    Noch nie hat sie ihnen das Musikmachen verboten. Jonah spielt in ra-sendem, doppeltem, vierfachem Tempo, hastet durch den gesamten Choral, bevor die Worte Gültigkeit bekommen. Sein Bruder sieht ihm zu, erschrocken. Delia packt den Gesetzesbrecher, lässt ihn baumeln wie ein Pendel, dann stellt sie ihn auf die Füße und schubst ihn in Richtung Kinderzimmer. Der Ordnung halber gibt sie ihm noch einen Klaps auf den Po, und der Übeltäter verschwindet heulend den Gang hinunter, und sein kleiner Bruder folgt ihm nach und weint aus Mitgefühl, hinkt im Gedanken an den eigenen Schmerz.
     
    Eine Zeit, in der die Farbe nicht mehr zählt. Meine Mutter spricht diese Worte zu meinem Großvater Ende September 1945. Ich bin drei Jahre alt. Was soll ich da schon behalten haben? Mein Bruder liegt auf dem Bauch in der Tür unseres Zimmers und spioniert die Erwachsenenwelt aus. Er hat nur einen Gedanken im Kopf: Er will zurück zu dem Klavier und etwas Krach machen. Den klingenden Thron zurückerobern, der allein die Welt in Ordnung bringen kann und ihn zum Mittelpunkt aller Liebe macht.
    Meine Eltern und mein Großvater sitzen über den Tisch gebeugt, drücken sich in den Lichtkegel inmitten grenzenloser Schatten. Sie müssten doch merken, wie eng ihr Kreis ist und wie groß die Finsternis. Aber etwas treibt sie weiter, etwas, das nicht sie ist, das sich nur für sie ausgibt. Etwas, das sie brauchen, ergreift so vollkommen Besitz von ihnen, dass sie aufeinander losgehen, um es nicht zu verlieren. Ich sehe sie am anderen Ende des Ganges, eine Kugel aus brennendem Schwefel in einer unendlichen schwarzen Schale.
    Mama sagt: Wir müssen es schaffen. Irgendwie. Jemand muss den Sprung wagen.
    Opapa sagt: Eine Zeit, in der die Farbe nicht mehr zählt? Weißt du, was das heißt? Wir leben ja längst in einer Welt, in der unsere Farbe nicht zählt. In der man die Schwarzen versteckt. In der man tut, als gebe es uns gar nicht. Wenn die Farbe nicht mehr zählt, dann spielen wir das Spiel der Unterdrückung mit, das Weiße mit uns spielen seit –
    Mit der Welt geht es zu Ende. Das haben Jonah und ich schon gelernt, und dabei wissen wir noch so gut wie nichts. Mein Bruder wird einfach zu ihnen hinlaufen, sie mit einem Lied umschmeicheln, bis alles wieder gut ist. Aber selbst Jonah ist in den Strudel der Rache geraten. Sein Schmerz ist sein eigener, und er wiegt schwerer als der Schmerz der Welt. Beim Spielen zu Unrecht ausgescholten.
    Opapa sagt: Was glaubt ihr denn, was sie erleben, im ersten Augenblick, in dem sie vor die Haustür gehen ?
    Mama sagt: Alles wird sich vermischen. Dann gibt es keine Rassen mehr.
    Opapa sagt: Mischung gibt es nicht.
    Pa sagt: Noch nicht.
    Opapa sagt: Wird es nie geben. Sie sind das eine oder das andere. Und das eine können sie nicht sein, nicht in dieser Welt. Sie gehören zur anderen Seite, Kind. Das weißt du doch. Warum willst du das nicht einsehen?
    Mama sagt: Die Menschen müssen sich entwickeln. In was für einer Welt willst du denn leben ? Dinge müssen sich verändern, die Welt muss voran-kommen.
    Opapa sagt: Die Welt kommt voran. Sie verändert sich. Für Schwarze wird sie schlechter von Tag zu Tag.
    Mama sagt: Auch die Weißen werden sich verändern.
    Opapa sagt: Die Weißen? Sich verändern? Nur wenn du sie mit vorgehal-tener Waffe zwingst.
    Mama sagt: Sie müssen es; es geht nicht anders.
    Und Opapa antwortet: Niemals. Nie im Leben. Was ich heute Morgen gesehen habe, ist die einzige Zukunft, die unsereiner je bekommen wird.
    Dann geht das Donnerwetter erst richtig los. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was es auslöste, genauso wenig wie ich mich an mein dama-liges Ich erinnern kann. Sie reden und reden. Jonah liegt auf dem Fuß-boden, in unserer Tür, und

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