Der Klang der Zeit
haben familiäre Verpflichtungen nicht von einer akademischen Laufbahn abgehalten.«
»Daddy.« Die Heftigkeit, mit der dieser Tadel aus der Tiefe ihrer Kehle kommt, überrascht sie selbst.
Aber er wird sich nicht demütigen lassen, nicht zweimal am selben Tag. Er fährt sie an. »Ich kann dir sagen, wo deine Karriere ist. Du darfst auf der Gasse vor dem Konzertsaal warten. Eingang für Farbige. Der aber auf absehbare Zukunft vernagelt bleibt.«
»Ich habe mich doch gar nicht richtig für Engagements beworben.«
»Was soll das heißen, ›nicht richtig‹ ? Entweder hast du oder du hast nicht.«
»Ich kann mehr tun, wenn die Jungs größer sind.«
»Wie lange hält eine Stimme?«
So viele Vorwürfe auf einmal, sie weiß gar nicht, worauf sie zuerst ant-worten soll. Ein klügeres Baby hat's nie gegeben, ob schwarz oder weiß, und trotzdem hat sie nicht Jura studiert, nicht für den Kongress kandi-diert, ist nicht einmal eine mittelmäßige Sängerin geworden. Hat ihre Rasse nicht vorangebracht. Alles was sie zustande gebracht hat ist zwei kleine Jungs aufzuziehen, und auch das offenbar eher schlecht als recht.
Ihr Vater verfällt in einen tiefen Basston, wie sie ihn noch nie bei ihm gehört hat. Und er spricht in jenem ländlichen Singsang, dem Süd-staaten-Tonfall ihrer Mama, auch wenn er, von einem einzigen widerwilligen Besuch abgesehen, schon seit über fünfzehn Jahren nicht mehr in Carolina gewesen ist. Das war nicht der Süden der Baumwolle, des Tabaks, es war Land so öde, dass nichts wuchs außer armseligen Bohnen und Erdnüssen. Land das nicht einmal so viel abwarf, dass man die Steuern davon bezahlen konnte. Seine Stimme ahmt genau den Ton seines eigenen geschundenen Schwiegervaters nach, eines Mannes, dem Delia nur drei peinliche Male in ihrem Leben begegnet ist. Aber es ist kein Spott. »Niemals werden diese Leute dich singen lassen.«
»Miss Anderson haben sie singen lassen.«
»Aber ja. Ein bisschen Jahrmarktsrummel im hohen Haus. Sie kann auch ein Tänzchen einlegen, wenn sie will. That's entertainment! Dressier-te Pudel. Aber wenn die Nummer vorbei ist, geht's brav wieder ab in die Sklavenhütte.«
Delia sitzt da, die Hände reglos auf dem halb abgeräumten Tisch. Ein Gangster ist in ihren Daddy gefahren, den Mann, der sich durch Joyces Ulysses gequält hat, der mit Universitätsrektoren korrespondiert, der sich von David die Relativitätstheorie hat erklären lassen. Den Mann, der sein ganzes Erwachsenenleben damit verbracht hat, den Geschundenen Erleichterung zu verschaffen. Aus seiner Praxis gezerrt, von seiner Frau getrennt, aus dem Viertel fortgeholt, das ihn seit Jahren als Heilkundigen vergöttert, befingert in einem Hotelfoyer, festgehalten wie ein Taschendieb, ein Junkie. Was die Welt in ihm sieht, wird stets
das Bild zerstören, das er der Welt von sich zeigen will. Früher oder später muss für jeden ein solches Erwachen kommen. Die Erkenntnis, wer man wirklich ist.
Dr. Daley setzt sich selbst an den Stutzflügel. Er spielt den Choral, den die Jungen gespielt haben, aus dem Gedächtnis. Die ersten vier Takte sind im Großen und Ganzen so, wie der Kantor sie einst in seinem Provinznest schrieb. Delia ist verblüfft, wie gut er spielt. Wenn auch wie jemand, der in einer fremden Sprache spricht. Sie hat ihn so gut wie nie spielen gehört, höchstens einmal ein paar Schnipsel Joplin. »Und ein Weinen kam von fern / Von Kindern unterm Baum des Herrn.« Ein paar Takte Boogie-Woogie bei Charlies Totenfeier. Und jetzt das. Nach dem Gehör. Einfach nur nach dem Gehör.
William zuckt vor den messerscharfen lutherischen Tönen zurück, als hätte das Klavier ihn gebissen. »Weißt du, was ich höre, wenn ich solche Musik höre? Ich höre ›Verfluchet seist du, Kanaan‹. Ich höre: ›Weiß – darf rein, Braun – mal schau'n, Schwarz – lass sein.‹«
Seine Tochter hebt den Blick wie ein geprügelter Hund. Sie will leise sein, piano. Leise ist schwieriger als laut, das hat ihr Lugati immer gepredigt. »Es tut mir Leid, dass die Leute auf dieser Konferenz solche Dummköpfe waren, Daddy.« Und nur noch ein Grund, hätte sie gern gesagt, sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.
»Mount Sinai. Keine Dummköpfe. Das beste Krankenhaus weit und breit.« Seine Augen loten die Tiefen der Strafen aus, die ihm erst noch bevorstehen. Er lässt sich so leicht erniedrigen, sein Leid ist grenzenlos. Eine Stunde lang festgehalten, gedemütigt: lächerlich. Nicht der Rede wert. Das wischt man
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