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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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waren. Einige davon, das las ich zwischen den Zeilen, machten ihm eine Heidenangst. Aber sie sangen ge-meinsam, und das beflügelte ihn. Die ganze Kindheit lang hatte er allein im Hinterhof Basketball gespielt, und nun durfte er endlich in einer richtigen Mannschaft spielen. Er genoss die Spannung, wenn er auf ein Dutzend anderer Musiker gleichzeitig horchen musste, die perfekte Harmonie, die er mit vollkommen Fremden fand.
    Europäische Journalisten fragten ihn, warum sie noch nie von ihm gehört hätten. Er hielt sie nicht davon ab, in ihren Artikeln vom Rassismus der Amerikaner zu schreiben. Er hatte Angebote aus einem Dutzend Städte bekommen, darunter Prag und Wien. »Wien, Muli. Mal dir nur die Möglichkeiten aus. Mehr Arbeit als ein Imbisskoch in Lauderdale am langen Wochenende. Du musst einfach herkommen. Das ist mein letztes Wort zu diesem Thema.«
    Der Brief brauchte Wochen, bis er mich erreichte, denn ich hatte unsere Wohnung im Village aufgegeben. Allein konnte ich sie mir nicht leisten. Für kurze Zeit wohnte ich bei Pa in Fort Lee; er freute sich riesig und war jeden Abend neu überrascht, wenn er nach Jersey zurückkehrte und ich immer noch da war. Ich hörte ihn nachts durchs Haus geistern, mit Mama reden, und oft hatte ich das Gefühl, dass sie ein besserer Ge-sprächspartner für ihn war als ihr Sohn es je sein würde.
    Bleiben konnte ich dort nicht. Es machte mir nichts aus, dass mein Vater sich Nacht für Nacht mit einer Toten unterhielt. Aber den Argwohn, mit dem mir die wohlanständige Nachbarschaft begegnete, hielt ich nicht aus. Eine Woche gab mir die Polizei, bis feststand, dass ich nicht der Gärtner war. Das erste Mal, dass sie mich auf die Wache schleppten, hatte ich keinen Ausweis dabei und nur die unglaublichste Geschichte: Ich sei Konzertpianist, derzeit arbeitslos, Juilliard-Schüler ohne Abschluss, schwarzer Sohn eines weißen deutschen Physikers, der in Columbia unterrichte. Selbst als sie sich schließlich bereit erklärten, Pa anzurufen und meine Angaben zu überprüfen, dauerte es noch den ganzen Abend, bis ich freikam. Das zweite Mal, zwei Wochen später, hatte ich mich mit einer ganzen Brieftasche voller Belege gewappnet. Aber diesmal gestatteten sie mir nicht einmal einen Telefonanruf. Sie sperrten mich die Nacht über ein und ließen mich um neun Uhr am nächsten Morgen gehen, ohne Erklärung oder Entschuldigung.
    Ich ging nicht mehr vor die Tür. Zwei Monate lang blieb ich zu Hause und übte. Ich ließ alle, die ich kannte, wissen, dass Jonah fort war. Ich war arbeitslos und würde mit jedem auftreten, solange nur ein bisschen Geld dabei heraussprang. Ich hörte Jonah sagen: Du verkaufst dich unter Preis. Du musst dir Gehör verschaffen.
    Es lag nahe, dass ich in dem Metier blieb, für das ich mein Leben lang gelernt hatte. Aber das war die Begleitung meines Bruders. Jonah und ich hatten jahrelang als perfekt eingespieltes Duo gelebt. Jetzt, wo mein Spiel so ausgefeilt war, wie es je werden würde, fehlten mir die Verbindungen, ohne die kein Musiker überleben kann. Ich unternahm ein paar Vorstöße. Ich bewarb mich bei einer gediegenen Mezzosopranistin, einem Bariton, und verabredete ein Treffen in einem Probenraum in der Stadt. Als sie mich sahen, schreckten die Sänger zurück, ein peinlicher Reflex: Das muss ein Missverständnis sein. Sie erläuterten die Partitur in allen Einzelheiten, denn dass ich Noten lesen konnte, war unvorstellbar.
    Es ist schwer, gut zu spielen, wenn man sich vorkommt wie ein Fisch auf Stelzen. Und es ist auch nicht leicht, gut zu singen, wenn man gerade frisch aus der Bahn geworfen ist. Meistens endeten diese Versuche mit gegenseitigem Lob und verlegenem Händeschütteln. Ich spielte für eine attraktive Sopranistin, die aussah wie Frederica von Stade und die meine Art zu spielen offenbar mochte. Kein Begleiter habe ihr je so viel Freiheit und Sicherheit zugleich gegeben, sagte sie. Aber ich sah, wie sie sich all die Schwierigkeiten ausmalte, die sie bekäme, wenn sie mit einem Schwarzen durchs Land zog, und ehrlich gesagt war auch mir bei dem Gedanken daran nicht wohl. Wir schieden im besten Einvernehmen. Sie zog weiter zu einer bescheidenen, doch soliden Karriere, und ich kehrte nach Hause zurück zu kalten Nudeln und weiteren Etüden.
    Ich spielte für Brian Barlowe, drei Jahre bevor die Welt von ihm hörte. Er klang wie der römische Soldat am Fuße des Kreuzes. Er hatte das gleiche Selbstvertrauen, das Jonah früher gehabt hatte, die

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