Der Klang der Zeit
absolute Gewissheit, dass die Welt ihn für das, was er konnte, lieben würde. Nur stand bei Brian, anders als bei Jonah, diese Gewissheit auf sicherer Grundlage. Ich hätte Jonahs Stimme jederzeit vorgezogen. Aber Barlowe wusste, wohin er gehörte. Seine Zuhörer mussten an nichts anderes denken als an die angenehmen Laute, die aus seiner Kehle strömten. Ein Barlowe-Konzert verließen sie überzeugter denn je von ihrem angestammten Recht auf Schönheit.
Im Laufe eines Monats spielten wir an drei Tagen zusammen. Brian war ein ausgesprochen vorsichtiger Mensch, er wollte seinen Aufstieg zum Ruhm mit äußerster Präzision in Szene setzen. Jedes Mal war ich benommen von dem Druck, unter den ich mich setzte, dem Wunsch ihm zu zeigen, dass ich seine Gedanken lesen und selbst ihm noch mehr entlocken konnte. Aber bis Barlowe genug von meinem Spiel überzeugt war – und, was noch wichtiger war, zu dem Schluss gekommen, dass ich einen Hauch Verruchtheit beisteuerte, der seinem Auftritt das gewisse Etwas gab –, bis er sich entschlossen hatte und mir eine Chance anbot, bei der er sicher war, dass ich sie mit Begeisterung annehmen würde, war mein Herz schon nicht mehr dabei. Brian Barlowe rund um den Erdball zu folgen, ihn auf den Gipfel seines Ruhms zu begleiten, hätte mich nie so glücklich machen können wie der Augenblick, in dem ich dem Mann seine Notenblätter zurückgab und ihm eine Absage erteilte.
Allmählich ging es mir auf: Ich konnte keinen anderen Sänger begleiten, nur meinen Bruder. Wenn ich für andere spielte, für Leute, die ohne die Gefahr sangen, dass man ihnen das Singen verbot, schwang sich das Lied nie ganz zu himmlischen Höhen auf. Ein Konzert mit Jonah war immer ein Schwerverbrechen. Bei weißen Sängern war es einfach nur Ware für Geld. Ich spürte die Freude des Musizierens nicht mehr, auch wenn die Noten so aufregend blieben wie zuvor.
An beiden Handgelenken entzündeten sich Ganglien: zwei Zysten wie Galläpfel, offene Wundmale. Spielen war unmöglich. Ich versuchte alle erdenklichen Körperhaltungen, selbst geduckt über die Klaviatur auf einem winzigen Schemel, aber nichts half. Wochenlang tat ich nichts; ich aß, schlief, pflegte meine Handgelenke. An jedem Wochenende sah ich die Stellenangebote in der Zeitung durch. Ich malte mir aus, dass ich Nachtwächter in einem Bürohochhaus werden könnte. Einmal pro Stunde würde ich, Taschenlampe in der Hand, meine Runde über den Friedhof der verlassenen Büros machen, den Rest der Zeit säße ich an einem schäbigen Schreibtisch mit meinen Partituren.
Ich musste raus aus New York. Zufällig hörte ich, dass unten in Atlantic City Barpianisten für die Saison gesucht würden. Dafür war meine dunkle Haut beinahe ein Vorteil. Ich antwortete auf eine Anzeige und fuhr zum Vorspielen hin, zu einem Club namens The Glimmer Room. Die Bar kam mir vor wie ein Fossil aus den Teergruben von La Brea – ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit. Seit Eisenhower hatte sich hier nichts verändert. An den Wänden hingen signierte Publicityfotos von Unterhaltungskünstlern, von denen ich noch nie gehört hatte.
Fünf Minuten lang spielte ich für einen Mann namens Saul Silber. Meine Handgelenke schmerzten noch immer, und ich hatte seit Juilliard, in einem Probenraum mit Wilson Hart, nicht mehr improvisiert. Aber Mr. Silber erwartete keinen Count Basie. Seit Aufkommen des Transis-torradios war der Glimmer Room nicht mehr das, was er einmal gewe-sen war, und Woodstock war ein hölzerner Pflock in seinem Herzen. Der Laden starb schneller als die umliegende Stadt. Mr. Silber verstand nicht warum. Er wollte einfach nur die Blutung stillen.
Er war weiß und unförmig wie ein Blumenkohl. »Spiel mir, was die jungen Leute heutzutage hören.« Er hätte ein besser assimilierter Onkel meines Vaters sein können. Er sprach mit einem Akzent – dem leisesten Hauch durch die Schule von Brooklyn gegangenen Jiddisch –, den vielleicht auch Pas Nachkommen benutzt hätten, wäre er bei seinen eigenen Leuten geblieben und andere Kinder bekommen hätte. »Irgendwas Exo-tisches, fang doch damit an.«
Ich wartete, dass er einen Titel nannte, aber er gab mir nur mit einer Handbewegung zu verstehen, ich solle anfangen, die Zigarre in der Hand wie ein Dirigentenstab. Ich hob an zu einem beherzten »Sittin' on the Dock of the Bay«, einer Nummer, die ich auf der Fahrt im Autoradio gehört hatte. Seit mein Bruder mich verlassen hatte, konnte ich so etwas ohne Skrupel mögen. Ich
Weitere Kostenlose Bücher