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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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in die Wohnung kam, war sie leer. Ein halbes Blatt Notenpapier, beschrieben in der Handschrift meiner Schwester, lag auf dem Küchentisch.
     
    Joey,
    wir mussten weg. Glaub mir, es ist besser so. Sie sind uns auf den Fersen, und du willst ja nicht noch tiefer in die Sache hineingeraten als ohnehin schon, weil du mich zur Schwester hast. Gestern hast du uns das Leben gerettet. Und es war schön zu sehen, dass sie dich noch nicht ganz kleingekriegt haben. Noch nicht! Robert sagt, du bist in Ordnung, und ich habe mir abgewöhnt, meinem Mann zu widersprechen, weil er nämlich nie nachgibt.
    Pass du auf dich auf, dann passen wir auch auf uns auf. Wer weiß? Vielleicht leben wir alle drei lang genug, dass wir nochmal Muscheln zusammen essen.
    Blut ist dicker als Wasser, stimmt's, Bruder?
    Schmeiß diesen Zettel weg, wenn du ihn gelesen hast.
     
    Unterschrieben war er nicht. Aber unten stand noch, als Postskriptum: »Sieh zu, was du bei deinem Bruder für uns tun kannst.«
    Das Blatt verbrannte mir beinahe die Finger. Ich warf es nicht fort, als ich es gelesen hatte. Ich legte es mitten auf den Wohnzimmertisch. Blut ist dicker als Wasser. Ich wollte, dass die Schergen es auf Anhieb fanden, wenn sie, gleich in welcher Gestalt, in meine Wohnung eindrangen. Ich weigerte mich zu überlegen, was die beiden vielleicht getan hatten, wel-ches Pseudoverbrechen man ihnen zur Last legte, in was für eine Klemme sie geraten sein mochten. Wir waren als Illegale auf die Welt gekommen. Schon das Beharren auf Veränderung war ein Verbrechen. Jetzt konnte ich nur warten, dass ich von ihnen hörte, wo immer und wann immer sie wieder auftauchten. Ich würde Geduld brauchen.
    Teresa erzählte ich nie von diesem Besuch. Es wäre mir auch nie gelungen, sie und die beiden zusammenzubringen. Ich hätte immer zwischen ihnen gestanden, hätte die eine vor der anderen schützen wollen, so wie Jonah einmal zwei Gesanglehrer täuschen wollte. Niemals würde ein Ganzes aus mir werden. Meine Einzelteile passten nicht zusammen. Und ich wollte auch gar nicht, dass sie passten.
    Kurz nach dem Besuch – früh genug dass mein Verstand, der überall Verbindungen sah, einen Zusammenhang vermutete –, schickte Pa mir einen Brief von Jonah, der erste seit Magdeburg. Der Kommunismus hatte anscheinend seinen Reiz verloren. Seine Reise durch Ostdeutschland hatte er hinter sich – »Musste meine Pilgerfahrt nach Leipzig ohne dich machen, Muli« –, war in Ensemblekonzerten in Berlin aufgetreten – »keine Lieder allerdings; ich konnte dir doch nicht untreu werden« –, dann kehrte er in den Westen zurück und sang Das Lied von der Erde in Köln. Von da zog er weiter nach Holland und gewann den ersten Preis im Gesangwettbewerb von s'Hertogenbosch, als sei nichts dabei.
     
    Keine Ahnung, was jetzt als Nächstes kommt. Anscheinend steht mir die ganze Welt offen, oder zumindest von hier bis Zeeland. Kein Mensch hier steckt meinen Gesang in eine Sparte, jedenfalls in keine, die kleiner ist als Musik – obwohl ich höchstens vierzig Prozent von dem verstehe, was die Leute sagen; kann also sein, dass sie mich den Fürsten der Finsternis nennen und ich es gar nicht merke. Lass dir sagen, Muli, in den Vereinigten Staaten, da bist du wie ein Gefangener. Immer noch ein Sklave, selbst hundert Jahre nach der so genannten Befreiung. Du hast überhaupt keine Ahnung davon, wie sehr sie dich unterdrücken, bis du die Unterdrückung überwunden hast. Möchtest du wissen, wie das ist, wenn du zum ersten Mal im Leben deine Ketten los bist? Dann komm her, bevor die amerikanische Kultur sich so weit ausgebreitet hat, dass sie uns selbst hier draußen zu Negern macht.
     
    Er hatte die Adresse einer Agentur in Amsterdam dazugeschrieben, wo er immer zu erreichen sei. Aber »immer« war bei meinem Bruder nicht lange.
    Zusammen mit dem Brief von Jonah schickte Pa auch einige eigene Zeilen. Er war nie nach Atlantic City gekommen, um mich spielen zu hören, und ich hatte ihn auch nicht dazu ermuntert – im Gegenteil. Er hatte keinen Begriff davon, was ich Abend für Abend spielte – die Surfgesänge, die kaum verschleierten Drogenhymnen, die Liebeslieder auf Autos, Haartrockner und anderes motorbetriebenes Spielzeug. Für Pa war ich ein Konzertpianist, der sich mit Auftritten seinen Lebensunterhalt verdiente. Sein Brief war kurz und randvoll mit Fakten. Mit seiner Arbeit gehe es gut voran; er mache Fortschritte bei dem Problem, das ihn schon seit drei Jahrzehnten beschäftige. »Wo

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