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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Monate nachdem ihr Vater auf den Boden des Glimmer Room gespuckt hatte, fand ich sie weinend auf dem Sofa sitzen. »Sie haben mich vor die Tür gesetzt. Meine Eltern. Sie haben die Türschlösser ausgewechselt.«
    Jetzt begriff ich endlich. Der Song, den sie bestellt hatte, als der Mann schon halb draußen war: Daddys Lieblingslied. Und der Song, bei dem sie mitgesungen hatte, der, bei dem ich mich in sie verliebt hatte: beide vom selben Komponistenduo. Die Songs der Sonntagmorgenliturgie, gepredigt von ihrem alten Herrn. »Wie hat er dich genannt? Dein Vater. Er hat doch sicher einen Kosenamen für dich gehabt.«
    Sie wollte es mir nicht sagen. Aber das brauchte sie auch nicht, goodness knows. My honey suckle rose.
    Wir richteten uns in einer einfachen Routine ein, die das Leben leicht genug für uns beide machte. Sie stellte ihre Wohnung zur Verfügung, damit wir eine gemeinsame hatten. Ich achtete besser auf meine Worte. Ich sagte ihr, ihr Hackbraten mit Tomatensoße sei das Beste, was ich je gegessen hätte, und zahlte wochenlang den Preis dafür. Irgendwie rutschte mir heraus, Taubenblau sei meine Lieblingsfarbe, und am nächsten Samstag fand ich sie dabei, wie sie die Küche taubenblau strich. In meine Wohnung gingen wir so gut wie nie. Ich glaube, wir verbrachten keine einzige Nacht dort. Ohne zu fragen, gab sie alles auf, was sie nicht mit mir gemeinsam tat. Ich schämte mich und wusste nicht weswegen. Ich liebte sie.
     
    Eines Nachmittags im Sommer 1970 war ich allein in meiner Wohnung. Es klopfte an der Tür, was selten genug vorkam. Ich öffnete verblüfft und brauchte volle drei Sekunden, bevor ich meine Schwester und ihren Mann Robert erkannte, meinen Schwager, mit dem ich in diesem Leben erst vierzig Minuten verbracht hatte, drei Jahre zuvor. Ich stand da und starrte sie an, irgendwo zwischen Freude und Furcht, bis Ruth sich räus-perte. »Joey, kannst du uns reinlassen?«
    Ich begrüßte sie begeistert. Ich umarmte Ruth, bis sie um Gnade flehte. Ich sagte nur immer wieder »Ich kann's nicht glauben«, und Ruth antwortete jedes Mal »Glaub es, Bruder«.
    »Was glauben?«, fragte Robert. Seine Stimme klang müde, aber er musste doch lachen über diese Begrüßung.
    »Wie habt ihr mich gefunden?« Ich dachte, sie müsse sich bei Pa gemel-det haben. Die beiden redeten wieder miteinander. Wer sollte ihr sonst gesagt haben, wo ich war?
    »Dich?« Ruth sah Robert mit einem traurigen Grinsen an. »Finden ist nicht schwer, Joey. Dich loszuwerden, das ist das Problem.«
    Ich wusste immer noch nicht, was ich ihr getan hatte. Aber das war mir gleich. Meine Schwester war da. Sie war in mein Leben zurückgekehrt. »Seit wann seid ihr hier? Wo wohnt ihr jetzt?«
    Ihr Schweigen brachte mich in Verlegenheit. Ruth sah sich in meiner winzigen Wohnung um, kaum mehr als eine Zelle; sie schien zu fürchten, dass irgendwo etwas in den Schränken lauerte. »Wohnen? Jetzt? Ulkige Frage.«
    Robert setzte sich auf meinen wackligen Küchenstuhl und schlug die Beine übereinander. »Könnten wir hier bleiben? Bei dir? Nur einen Tag oder zwei.«
    Sie hatten kein Gepäck. »Natürlich. Jederzeit.«
    Ich fragte nicht nach den näheren Umständen, und von sich aus erzählten sie nichts. Was immer es war, das hinter ihnen her war, es lauerte gleich hinter der nächsten Straßenecke. Ich sah, wie sie sich an-blickten und eisern schwiegen. Sie hatten nicht vor, mich zum Kom-plizen zu machen. »Setzt euch. Mann, bin ich froh, euch zu sehen. Hier, macht es euch gemütlich. Kann ich euch was zu trinken anbieten?«
    Meine Schwester hielt mich an den Handgelenken fest wie eine wohlmeinende Pflegerin, beschwichtigte mich, grinste. »Joey, wir sind's nur.«
    Robert, der Mann, mit dessen Schicksal meine Schwester ihr eigenes verknüpft hatte, ein Riese, über den ich nicht das Geringste wusste, fixierte mich mit seinem durchdringenden Blick. Er schien mir in allem das genaue Gegenteil von mir: aufrecht, würdevoll, solide, in sich ruhend, engagiert. Seine Aura füllte den ganzen Raum. »Was macht die Musik?«
    Ich ließ den Kopf hängen. »Immerhin spiele ich. Ich spiele, was die Leute hören wollen. Und ihr?«
    »Ha.« Er legte die Hände an den Kopf, konzentrierte sich. »Wir auch. Wir spielen auch, was die Leute hören wollen.«
    »Ich habe gelesen, dass Huey frei ist«, sagte ich.
    »Joey!«, rief Ruth vom Küchenfenster, wo sie mit den Vorhängen hantierte. »Wann hast du Zeit gefunden, das zu lesen? Ich dachte, du bist jetzt

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