Der Klang der Zeit
Mach und das Quantum zusammentreffen, kann die Zeit nicht existieren!« In der Physik gescha-hen wieder die verrücktesten Dinge, just die, die er dreißig Jahre zuvor vorhergesagt hatte. Multiple Universen, Parallelwelten. Wurmlöcher. Natürlich kein Wort über die verrückten Dinge, die die Welt rings um ihn in ihren Grundfesten erschütterten.
Im letzten Absatz, als hätte er es nur dazugeschrieben, um das halb leere Blatt noch zu füllen, hieß es: »In zwei Tagen gehe ich zu einer Untersuchung ins Krankenhaus. Mach dir bitte keine Sorgen. Meine Symptome sind zu unangenehm, als dass ich sie hier beschreiben könnte. Die Ärzte wollen nachsehen, wie es in meinem Inneren aussieht, und dazu müssen sie mich aufschneiden!«
Der Brief traf am Tag nach der Operation bei mir ein. Ich rief zu Hause an, aber da meldete sich niemand. Er hatte mir keine Telefonnummer gegeben, nicht einmal den Namen des Krankenhauses, in dem er operiert werden sollte. Ich rief bei Mrs. Samuels an, und sie nannte mir die Nummer der Klinik. Ich merkte an ihrer Stimme, dass sie nicht die-jenige sein wollte, die die schlechte Nachricht überbrachte. Ich ging zu Mr. Silber und bat um zwei Tage Urlaub.
»Und wer soll für meine Gäste spielen? Soll ich mich vielleicht selbst ans Klavier setzen? Soll ich so tun als könnte ich spielen, wie dieser Satchmo?«
Ich erzählte Mr. Silber nichts über meinen Vater. Mein Vater liegt im Krankenhaus hätte für ihn so viel geheißen wie Fetter Schwarzer stirbt an Komplikationen von Diabetes Typ II. Und wenn ich ihm gesagt hätte, dass es Bauchspeicheldrüsenkrebs war, hätte Mr. Silber sich nach den Einzel-heiten erkundigt. Dieser Gedanke war mir von Grund auf zuwider. Dein Vater ist Jude? Ich konnte diesem Mann doch nicht eine gemeinsame Herkunft aufdrängen.
Teresa erzählte ich es. Sie wollte mich begleiten, gleich beim ersten Besuch. »Nicht diesmal«, sagte ich. »Aber vielleicht später.« Ich musste sie nicht bitten zu warten. Sie wusste, wie lang die Zeit war. Sie hatte ihr ganzes Leben mit Abwarten verbracht.
Im Krankenhaus die übliche Farce. Sein Sohn? Der Chirurg im Mount-Sinai-Hospital versuchte gar nicht erst, seine Überraschung zu verber-gen. Doch sein ungläubiges Staunen hatte schon viel früher begonnen, in dem Augenblick, als er das Skalpell ansetzte. »Dieser Krebs ist schon lange da. Möglicherweise seit Jahren.« Ich wusste genau seit wann. »Ich kann nicht verstehen, wie jemand so lange damit leben konnte und erst jetzt –«
»Er ist Wissenschaftler«, erklärte ich. »Er lebt in einer anderen Welt.«
Als ich ins Zimmer trat, saß Pa im Bett und begrüßte mich mit einem beinahe schuldbewussten Lächeln. »Du hättest nicht extra herkommen müssen!« Mit einer Handbewegung wischte er sämtliche Diagnosen vom Tisch. »Du musst dein Leben leben! Du hast deine Arbeit, da unten in Ocean City! Wer soll jetzt für deine Zuhörer spielen?«
Ich blieb zwei Tage. In der Woche darauf kam ich wieder, diesmal mit Teresa. Sankt Teresa. In den folgenden vier Monaten fuhr sie ein halbes Dutzend Mal mit mir nach New York. Schon allein dafür hätte ich sie heiraten sollen. In diesen Krisenzeiten zeigte sie, was in ihr steckte. Sie regelte alles – all die alltäglichen Kleinigkeiten, die ich auf unseren Konzertreisen immer für Jonah geregelt hatte und für die mir jetzt die Kraft fehlte. Sie hätte mich nicht begleiten müssen. Mir nicht zur Seite stehen und mit ansehen müssen, wie ich meinen Vater verschwinden sah. Wegen mir hatte sie schon den eigenen Vater verloren. Es lastete nur noch schwerer auf mir, dass sie mir so bereitwillig beistand, als ich den meinen verlor.
Pa hatte sie gleich ins Herz geschlossen. Er war glücklich, dass ich jemanden gefunden hatte, und dann auch noch solch eine Lichtgestalt. Anfangs fühlte er sich schuldig, wenn wir ihn besuchten. Doch bald war er auf unsere Besuche angewiesen. Pa wurde aus dem Krankenhaus entlassen, und Mrs. Samuels zog zu ihm in das Haus in Fort Lee, wie sie es im Geiste schon viele Jahre zuvor getan hatte. Wann immer Teresa und ich auftauchten, zog sie sich diskret zurück. Ich habe diese Frau nie wirklich kennen gelernt. Vielleicht hätten mein Vater und Mrs. Samuels geheiratet, wenn auch nur eins seiner Kinder ihnen ein klein wenig Mut gemacht hätte. Aber ich wollte keine weiße Stiefmutter. Und Pa hätte auch nie den Sprung von der Weltlinie geschafft, die er selbst gezeichnet hatte. Wie hätte er seiner zweiten Frau erklären
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