Der Klang der Zeit
ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Seine Hand tastete, bis sie die meine fand. »Ich meine doch meine Ruth.« Er ließ sich in die Kissen sinken. »Wie geht es ihr?« Die Worte er-schöpften ihn.
»Es geht ihr gut, Pa. Ich habe sie gesehen, vor gar nicht langer Zeit.«
»Wirklich?« Freude und Ärger rangen miteinander. »Warum hast du mir nichts erzählt?«
»Sie ist verheiratet. Ihr Mann heißt Robert. Robert Rider. Er ist ...« Ein prächtiger Mann. Ein starker Mann. »Großzügig.«
Pa nickte. »Das hatte ich vermutet. Wo lebt sie jetzt?«
»Ich weiß es nicht, Pa.«
»Sie ist doch nicht in Schwierigkeiten?«
»Nichts Ernstes.« Meine Zeiten als Konzertpianist mochten vorüber sein, aber Improvisieren hatte ich gelernt.
Das Morphium machte sich wieder bemerkbar. Er war abwesend, und ich dachte, er schlafe ein. Aber nach einem Augenblick sagte er: »Kalifor-nien. Vielleicht ist sie in Kalifornien.«
»Wer weiß, Pa. Kalifornien könnte gut sein.«
Er nickte, beruhigt. »Hatte ich vermutet.« Als er die Augen wieder auf-schlug, standen Tränen darin. »Sie hat mich verstoßen. Hat mir gesagt, ihr Kampf ginge mich nichts an.« Bitterkeit stand in seinen Zügen, als könne das, was kam, doch noch alles zerstören, was gewesen war. Er atmete schwer. Ich setzte mich aufs Bett, beschwichtigte ihn, so wie ich Jonah beschwichtigt hatte, wenn seine Anfälle kamen. »Wenn du sie siehst, musst du ihr etwas von mir sagen. Sage ihr ...« Er mühte sich klar zu sprechen, wartete ab, bis die Botschaft aus der Vergangenheit ihn eingeholt hatte. Dann schloss er die Augen und lächelte. »Sage ihr, an jedem Punkt, auf den man das Teleskop richtet, findet man eine neue Wellenlänge.«
Dreimal musste ich ihm versprechen, dass ich ihr das sagen würde. In dieser Nacht, ohne dass er noch ein weiteres Wort sprach, starb mein Vater. Es war kaum mehr als ein Taktwechsel. Eine plötzliche, unvorbereitete Änderung der Tonart. In jedem Musikstück, das das Spielen wert ist, baut sich eine Spannung auf, treibt die Akkorde voran, drängt zu der einen schnellen Verdichtung der Luft, der dann die endlose Stille jenseits des Schlussstrichs folgt.
Pa starb. Es gab kein letztes Röcheln, keine Entleerung des Darms. Ich hatte ihm gesagt, dass er gehen konnte. Statt dass er den nächsten kleinen Schritt in seine lokale Zukunft machte, bog er die Schleife zurück und schloss sie für alle Zeit da wieder an, wo er schon einmal gewesen war. Ich rief die Pfleger. Und dann krümmte sich auch meine eigene Le-enslinie, fort von seiner, nahm Richtung auf einen unbekannten Ort.
Ich hatte geglaubt, der Tod werde anders sein, diesmal, wo ich wusste, dass er kam. Er war anders. Endgültiger. Mama hatte nie eine hance gehabt zu verschwinden, so plötzlich war sie gegangen. Aber für mich war sie nie wirklich tot gewesen bis zu dem Augenblick, in dem der Mann, der noch fünfzehn Jahre nach ihrem Tod in der Küche mit ihr geredet hatte, zu ihr zurückgekehrt war. Pa war fort und hatte das, was mich noch immer mit ihr, mit uns, verbunden hatte, mitgenommen. Mit seinem Ende endete auch meine Vergangenheit. Jetzt war alles starr geworden, unveränderlich. Der Vogel und der Fisch konnten sich verlieben, aber das einzige Nest, das die Welt ihnen ließ, war das Grab.
Es waren Hunderte von Dingen zu erledigen, und ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Das Krankenhaus half; offenbar hatten sie schon öfter Fälle wie mich erlebt. Pa hatte mir keinerlei Anweisungen gegeben. Er hatte keine Vorkehrungen für das Unvermeidliche getroffen. Jonah und Ruth waren nicht zu erreichen. Es schien mir die beste Lösung, ihn zu verbrennen. Für Mama war es schließlich auch gut genug gewesen. Und das war noch die leichteste meiner Aufgaben. Gerade in dem Moment, in dem ich am dringendsten fort aus dieser Welt gemusst hätte, wo ich nur oben am Sternhimmel zwischen den sich drehenden Galaxien sein wollte, wurde ich zurück auf die Erde geholt und musste unzählige Entscheidungen über Dinge fällen, die mir nichts bedeuteten. Alle wollten meine Unterschrift: Die Universität, der Staat, die Gemeinde, die Bank – all die geschäftigen Gemeinschaften, mit denen Pa immer einfach dadurch zurechtgekommen war, dass er sich nicht um sie kümmerte.
Teresa stand mir per Telefon aus Atlantic City bei. Zu einem langen Wochenende kam sie herauf. Je hilfloser ich war, desto tüchtiger und selbständiger wurde sie. Alles, was sie in Angriff nahm, war eine Belastung
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