Der Klang der Zeit
Karte, in der Handschrift meines Vaters, war jünger als sie aussah. Sie war geknickt, eselohrig, mit Fingerabdrücken, eine gefälschte Anti-quität. Oben auf der doppelten roten Linie stand in Großbuchstaben der Name DALEY. Darunter eine Adresse in Philadelphia. Keine Telefon-nummer.
Ich zog die Karte aus dem Bündel und legte sie auf die Anrichte in der Küche. Hundertmal am Tag sah ich sie an, drei Tage lang. Ein einziger Anruf bei der Telefonauskunft, und binnen zwei Minuten hätte ich mit meiner unbekannten Verwandtschaft sprechen können. Hallo, hier ist euer Enkel. Hier spricht euer Neffe. Euer Vetter. Sie würden mich fragen: Wo wohnst du ? Was machst du ? Wieso sprichst du so seltsam ? Und was sollte ich dann sagen? Ich konnte doch Pas Tod nicht als Vorwand nehmen, um Kontakt zu knüpfen. Ihre eigene Tochter war umgekommen, und es hatte uns trotzdem nicht wieder zusammengebracht. Jedes Mal, wenn ich die Karte ansah, kam mir der Abstand größer vor. Die Kluft wurde so weit, ich kam nicht einmal bis an den Rand der Klippe auf meiner eigenen Seite. Der Riss war so tief, man konnte nichts tun, man konnte ihn nur einfach lassen, wie er war.
Unter den Adresskarten meines Vaters gab es keine mit dem Namen STROM . Jedes Mal, wenn er in seinen letzten Tagen auf seine Familie zu sprechen kam, war es eine Qual für mich gewesen. Es gab niemanden auf seiner Seite, den ich benachrichtigen konnte. Wir können einen Sprung in die Zukunft machen, hatte er uns so oft erklärt, als wir noch Kinder waren. Aber wir können keine Botschaft zurück in die eigene Vergangenheit schicken. Ich konnte nichts weiter tun, als Pas Tod zu den Akten zu nehmen, eine Botschaft an ein zukünftiges Ich, das wissen würde, was es damit zu machen hatte.
Mit dem Rest des Inventars war ich gnadenlos. Ich hielt erst inne, als ich an die Arbeitsunterlagen meines Vaters kam. Von dem, womit er sich in letzter Zeit beschäftigt hatte, hatte ich kaum einen Begriff; nur dass er unbedingt den Beweis für eine vorherrschende Richtung im Universum finden wollte. Tage verbrachte ich mit den gefährlich hohen Papier-stößen in seinem Arbeitszimmer, aber schließlich sah ich ein, dass ich nie allein damit zurechtkommen würde. Anders als die Musik hatte seine Physik ja eine Bedeutung in der wirklichen Welt, so abstrakt sie auch inzwischen geworden war. Schon seit Jahren hatte er nichts Größeres mehr veröffentlicht. Aber der Gedanke, dass in den handschriftlichen Notizen, in den Tabellen, die über das ganze Zimmer verstreut waren, vielleicht etwas Wertvolles verborgen lag, machte mir Angst.
Ich rief Jens Erichson an, Pas besten Freund in Columbia, ein Hochenergiephysiker, der auch ein begabter Sänger war. Er war etwa so alt wie Pa und unter all seinen Kollegen derjenige, der am besten beurteilen konnte, was in den Papieren der letzten Monate steckte. Er begrüßte mich herzlich. »Mr. Joseph! Ja natürlich erinnere ich mich an Sie, aus alter Zeit, bevor Ihre Mutter ... Ich war manchmal bei Ihnen zu Hause, zum gemeinsamen Musizieren.« Er war begeistert, als ich ihm erzählte, dass ich Musiker geworden sei. Die nicht ganz so glorreichen Einzelheiten erzählte ich ihm nicht.
Ich entschuldigte mich immer wieder. »Ich sollte Ihnen das nicht auf-bürden. Sie haben mit Ihrer eigenen Arbeit zu tun.«
»Unsinn. Wenn im Testament nicht die Rede von einem Nachlassverwalter ist, dann weil David davon ausging, dass ich es mache. Selbstverständlich. Er hat uns ja allen weiß Gott oft genug geholfen, im Laufe der Jahre.«
Wir vereinbarten einen Termin, und er kam vorbei. Ich führte ihn zum Arbeitszimmer. Unwillkürlich entfuhr ihm ein Seufzer, als er sah, auf was er sich eingelassen hatte. So hatte er es sich nicht vorgestellt. Zwei Tage arbeiteten wir wie Archäologen, verpackten die Papiere in Kartons und beschrifteten sie. Wir brauchten dazu Handschuhe, einen Staubwedel und eine Kamera, mit der wir die Position der Papiere im Raum dokumentierten. Begleitet von meinen zerknirschten Dankesbekundungen nahm Dr. Erichson die Kisten mit zur Universität. Ich über-gab das Haus einem Grundstücksmakler und kehrte nach Atlantic City zurück.
Ich ging zum Glimmer Room, aber ich war nicht überrascht, als ich hörte, dass Mr. Silber meine Dienste nicht mehr benötige. Er hatte einen neuen Klavierspieler engagiert, einen strohblonden Burschen aus White Plains namens Billy Land, der sich das Spiel auf einer Hammond B3 selbst beigebracht hatte und alles von Jim
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