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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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noch ans Leben vertäut gewesen war.
    Danach schwanden seine Kräfte rasch. Immer wieder verlor er das Bewusstsein, aber jedes Mal kehrte er zurück. Wir sprachen nicht mehr viel, nur noch über praktische Dinge. Am übernächsten Morgen schrie er auf, blind vor Schmerzen: »Es ist nicht richtig. Wir haben einen entsetzlichen Fehler gemacht. Wir haben unser Haus für Brennholz zerhackt.« Seine Augen blickten mich noch immer an, doch mit einem so verzweifelten Unverstand, sie kannten mich nicht mehr. Was die Krank-heit ihm nicht nahm, nahm das Morphium. Das Spiel der Muskeln rund um seine Augen verriet mir, dass er alle erdenklichen Laute hörte, die wunderbarste Musik. Aber die Mauer, von deren anderer Seite die Töne kamen, war unüberwindlich. Die Augen blickten flehend ins Leere, baten, dass ich ihm etwas von meiner Erinnerung abgab. Der entsetz-liche Verdacht stand ihm im Gesicht geschrieben, dass er alles, was ihm durch den Kopf ging, nur erfand.
    Ich musste an den Tag zurückdenken, an dem er mit uns nach Washington Heights hinaufgestiegen war und uns den magischen Stoff zu essen gegeben hatte, Mandelbrot. Den Tag, an dem er uns erklärt hatte, dass jedes Ding im Universum sich nach seiner eigenen Uhr bewegte. Ein einziger Blick auf das Zifferblatt seines Gesichts und ich sah, wie unterschiedlich unser beider Uhren nun gingen. In den fünf Sekunden, die ich für den Blick brauchte, glitten ganze Jahrzehnte über diese stille Bucht. In meinen wenigen Atemzügen hörte er das ganze Repertoire. Vielleicht war auch, während meine Uhr raste, während die Zeiger sich vor seinen Augen immer schneller drehten, seine eigene bereits stehen geblieben, gestrandet beim ersten Takt eines ewigen Kurkonzerts auf der Promenade seines Verstands.
    Und dann, ein letztes Mal, sprang die Zeit doch wieder an. Ich saß an seinem Bett, blätterte in einer sechs Monate alten Gesundheitszeitschrift, wie sie das Krankenhaus wie Beweismaterial in allen Zimmern liegen hatte. Ich überlegte, ob heute der letzte Tag sein würde. Aber das überlegte ich schon seit drei Tagen. Schon seit Ewigkeiten hatte Pa nichts mehr gesagt. Ich redete mit ihm, als wäre er noch da, auch wenn ich wusste, dass meine Worte ihm vorkommen mussten wie wirbelnde Galaxien. Ich saß an dem fahrbaren Esstisch, hatte die Zeitschrift darauf ausgebreitet und las, wie man mit einer Gürtelrose lebte. Mit einem Ohr horchte ich auf ihn, auf Veränderungen in seinem Atem. Es war das gleiche Gefühl wie in den Jahren, in denen ich Jonah am Klavier begleitet hatte, als ich, über meine Partitur gebeugt, auf das kaum hörbare Zeichen wartete, dass er mir auf unbekannte Pfade entfloh.
    Und dann kam es. Pa richtete sich in seinem schräg gestellten Bett auf und öffnete die Augen. Er krächzte etwas, und ich brauchte einige Sekunden, bis ich es verstand. »Wo ist mein Liebling?« Ich wartete, gelähmt. Das Aufrichten würde ihn erschöpfen, er würde zurücksinken. Aber dann, lauter, entsetzter, rief er: »Wo ist sie? Wo ist mein Schatz?«
    Ich ging zu ihm hin, wollte ihn beschwichtigen, ihn wieder auf sein Lager betten. »Alles in Ordnung, Pa. Ich bin hier. Ich bin's, Joseph.«
    Seine Augen schossen Blitze. Mein Vater, der ein ganzes Leben lang nie wütend auf mich gewesen war. »Ist sie in Sicherheit?« Das war die Stimme eines Fremden. »Du musst es mir sagen.«
    Wieder stand ich vor den Trümmern zweier Leben, wusste nicht, an welches ich mich halten sollte. »Pa. Sie ist nicht mehr hier. Sie ist ... tot.« Selbst jetzt brachte ich das verbrannt nicht über die Lippen.
    »Tot?« Aus dem einen Wort sprach der größte Unglauben. Es musste ein Missverständnis sein, etwas, das er nicht begriff.
    »Ja. Das weißt du doch.«
    »Tot?« Und dann bäumte sein ganzer Körper sich auf wie unter Elektroschock. »Tot? Liebe Güte! Nein. Das kann nicht sein. Alles –« Er schlug nach den Infusionsschläuchen und wollte aus dem Bett. Schneller, als er die Füße auf dem Boden hatte, war ich auf der anderen Seite und hielt ihn fest. »Sie kann nicht tot sein!«, rief er. »Das ist unmöglich. Wann? Wie?«
    Ich fasste seinen abgemagerten Leib und drückte ihn sanft zurück auf das Bett. »Bei einem Feuer. Als unser Haus verbrannte. Vor fünfzehn Jahren.«
    »Oh!« Er packte mich am Arm. Ich spürte, wie sein ganzer Körper sich entspannte vor Dankbarkeit. »Oh! Gott sei Dank.« Erleichtert ließ er sich zurücksinken.
    »Lieber Himmel, Pa. Was sagst du da?«
    Er schloss die Augen, und

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