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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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wer du bist?«
    »Irgend so ein schwarzer amerikanischer Tenor.«
    »Hast du ihn nach ...«
    »Ich brauchte nicht zu fragen. Ich habe sie gesehen. Nach der Premiere kam sie hinter die Bühne.« Er hielt inne, musste sich zum Weitermachen zwingen. »Sie ist ... alt. Erwachsen. Und verheiratet. Mit einem tune-sischen Geschäftsmann aus Neapel. Er sieht aus wie ich. Nur dunkler.«
    Wieder war ich sein Begleiter, wartete auf die Zäsur, hielt alles in der Schwebe, bis sein Einatmen die nächste Strophe einläutete.
    »Sie hat sich entschuldigt. Auf Englisch, das ihr Mann nicht versteht. ›Du hättest einen Brief verdient gehabte Wie alt waren wir, Joey? Vierzehn? Das Jahr, in dem Mama ... Damals, als Pa ...« Nur die lebenslange Übung ließ seine Stimme nicht versagen. »Echte Schwarze sterben an Schussverletzungen, nicht wahr? Überdosen. Unterernährung. Verseuchtem Wasser. Woran sterben Mulatten, Joey? Es stirbt doch keiner an Enttäuschung, oder?«
    »Wie geht es jetzt weiter? Bleibst du bei der Oper?« Ich musste auf dem Laufenden bleiben. Ich musste es Pa erzählen.
    »Muli?« Er war in einem Tempo unterwegs, in dem ich ihn nicht mehr fassen konnte. »Oper ist ganz anders, als wir uns immer vorgestellt haben. Vollkommen anders. Ich musste erst nach Italien kommen, bevor ich das begriff. Die Heimat der Oper. Zu den Einheimischen, die die Sprache sprechen. Oper, das ist die Kindheit eines anderen. Der Alb-traum eines anderen. Ich glaube, ich gehe für ein Weilchen nach Paris.«
    »Frankreich ?« Unter allen Sprachen, in denen er sang, beherrschte er Französisch am schlechtesten. »Was willst du machen? Singst du wieder Lieder?« Ich sagte es so kühl, wie ich konnte. Wie eine geschiedene Ehe-frau, die ihrem Mann rät, doch wieder auszugehen.
    »Ich habe genug davon, Joey. Ich will nicht mehr alleine singen. Es sei denn, du ... Wo soll ich denn noch einmal einen telepathischen Begleiter finden?«
    Ich war mir nicht sicher, ob das eine Bitte oder eine Abwehr war. »Was hast du vor?« Ich sah ihn vor mir, wie er in der Metro Chansons von Maurice Chevalier sang und mit einem Schlapphut die Centimes auffing.
    »Es muss doch ein Leben jenseits von Oper und Liedern geben. Hat deine Mutter dir das nie gesagt? Ein jeglicher diene Gott auf seine Weise.«
    »Und was ist deine Weise?« Jede neue Antwort schien tödlicher als die vorhergehende.
    »Wenn ich das wüsste. Irgendwo hier draußen muss sie sein.« Wieder schwieg er, schämte sich, dass er am Leben war. Ich spürte, wie er mit sich rang, ob er mich noch einmal fragen sollte, ob ich nicht zu ihm nach Europa kommen wolle. Aber die Chance zu einer weiteren Absage gab er mir nicht. Als er wieder sprach, redete er nicht mehr zu mir allein. »Joey? Mach eine kleine Gedenkfeier für ihn. Nur für uns. Spiel ihm etwas Schönes. Etwas aus alten Zeiten.«
    »Das haben wir schon gemacht.«
    Ich spürte, wie er ihn durchbohrte, der Dolchstoß der Freiheit, die er sich selbst gewünscht hatte. »Du bist sicher, dass ich nicht doch zurückkommen soll?«
    »Du musst nicht. Es sei denn du willst.« So viel konnte ich ihm zugestehen.
    »Joey, vergib mir.«
    Auch das konnte ich mir leisten.
    Ich brauchte Tage, bis ich begriff, dass ich nicht mehr zum Krankenhaus gehen musste. Das Einzige, was jetzt noch zu tun blieb, war die Auflösung von Pas Haushalt. Ich tauchte auf, holte Atem, las Zeitungen, informierte mich, was in der Welt geschehen war, während ich im Vorzimmer des Todes wartete. Die Nationalgarde hatte ein paar College-Studenten getötet. Das FBI verhaftete Priester, die Leuten halfen, ihre Einberufungsbescheide zu verbrennen. Hoover warnte die Nation vor »extremistischen, rein schwarzen Hassorganisationen«. Er meinte meine Schwester und ihren Mann, die kriminellen Elemente, die mein Land bedrohten.
    Ich wollte Fort Lee so schnell wie möglich hinter mir lassen. Zuerst musste ich das Haus durchsehen, die Sachen darin. Für die wenigen Erinnerungsstücke, die das Aufheben wert waren, mietete ich einen Lagerraum. Die komplette väterliche Garderobe, unverändert seit 1955, stiftete ich der Heilsarmee. Das Klavier, das Pa für mich gekauft hatte, verkaufte ich ebenso wie die besseren Möbelstücke und legte mit dem Geld ein Sparkonto auf den Namen Ruth und Robert Rider an.
    Ich suchte in Pas chaotischem Schreibtisch nach der Anschrift der Familie meiner Mutter. Ich fand sie in seinem Adressbuch, einem mit dickem Gummiband zusammengehaltenen Bündel kleiner Karteikarten. Die

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