Der Klang der Zeit
er Recht. Ja. Vielleicht hatte er das.« Mein Vater verstummte versonnen. Ich dachte, er wolle schlafen. Ich hätte ihm Ruhe gönnen sollen, aber ich rührte mich nicht. »Er machte mir Vorwürfe wegen meiner Arbeit im Krieg. Du weißt, ich habe damals einige Aufgaben gelöst. Ich habe geholfen, bei diesen Waffen.«
Ich nickte. Wir hatten nie darüber gesprochen, aber ich wusste es.
»Er stellte mich zur Rede. Er sagte, die Bombardements seien genauso rassistisch gewesen wie alles, was Hitler gemacht habe. Ich habe ihm erklärt, dass ich mit den Bombardierungen nichts zu tun hatte. Bei keiner dieser Entscheidungen war ich dabei gewesen. Ich erklärte ihm, dass es nichts mit der Frage nach Schwarz oder Weiß zu tun habe. Er ant-wortete, es gebe nichts – nichts auf der ganzen Welt –, was nicht mit Schwarz oder Weiß zu tun habe. Aber die Weißen wüssten das nicht. Ich sei nicht weiß, entgegnete ich; ich sei Jude. Das verstand er nicht. Ich versuchte ihm zu erklären, mit welchem Hass ich in diesem Lande leben musste, Anfeindungen, über die ich mit keinem Menschen sprach. Wir erklärten ihm, dass es für euch Kinder nicht mehr um Schwarz oder Weiß gehen werde. Euer Großvater war ein Denker. Ein Gelehrter. Aber er antwortete, wir täten Unrecht damit, wie wir euch Kinder aufzögen. Er sagte, es ... es sei ein Verbrechen. Dass wir – Sünden. Sagt man so? Ein Zeitwort?«
»Sündigen.«
»Er sagte, dass wir sündeln, wenn wir euch Jungs aufziehen, als gäbe es den Kampf Schwarz gegen Weiß nicht. Als ob wir schon angekommen seien in unserer eigenen Zukunft.«
Ich schloss die Augen. In der Zukunft, die mein Vater sich erträumte, würde die Menschheit niemals ankommen, nicht einmal aus Versehen. Wenn mein Großvater, mein eigener Vater ... Die Worte brachen aus mir hervor, bevor ich überhaupt wusste, was ich dachte. »Es hätte nicht alles oder nichts sein müssen, Pa. Du hättest es uns wenigstens erklären können ... Wir hätten alle zusammen versuchen können ...«
»Verstehst du, in diesem Land, an diesem Ort. Da ist alles von Anfang an alles oder nichts. Immer das eine oder das andere. Nichts darf beides zugleich sein. Und auch da haben deine Mutter und ich uns schuldig gemacht.«
»Wir hätten wenigstens darüber reden können. Alle zusammen. Über unser Leben.«
»Gewiss hätten wir das. Aber wie? Das war es ja, was euer Großvater ... was William wissen wollte. Wir haben versucht darüber zu reden, zusammen, als Familie, an jenem Abend. Aber als erst einmal die Worte gefallen waren ... als es so weit gekommen war ...«
Und jetzt kam es wieder so weit. Mehr als je vom Krebs war sein Gesicht nun vom Schmerz der Erinnerung gezeichnet. Ich war wieder ein kleiner Junge, kauerte in der offenen Kinderzimmertür und hörte, wie meine Welt, die meines Vaters, die meiner Mutter, in Scherben fiel.
»Es gebe einen Kampf zu kämpfen, sagte er. Und wir – wir seien Verräter. Nein, sagten deine Mutter und ich; wir kämpfen diesen Kampf. Wir kämpfen dafür, dass ihr Kinder frei werdet, frei euch zu entscheiden. Frei von allem.«
»Deine Mutter und ich«, das klang nicht mehr wie eine Einheit. Und »Frei von allem« eher wie ein Todesurteil.
Mein Vater lag aufgestützt auf seinem Bett, der Art von elektrisch ver-stellbarem Bett, das sich in jede Position bringen lässt, nur in keine bequeme. Er sprach mit halb offenem Mund, die Augen geschlossen, seine Stimme kam aus der Ferne eines Ortes, an den ich ihn verbannt hatte. »Entsetzliche Dinge haben wir gesagt an jenem Abend. Grauenhafte Dinge. ›Wer hat ein Recht auf Schmerz?‹ – das war das Spiel, das wir gespielt haben. ›Wer hat am meisten gelitten?‹ Ich hielt ihm vor, es seien niemals so viele Neger umgebracht worden wie Juden. Er widersprach. Das verstand ich nicht. Er sagte, kein Mord könne so schlimm sein wie die Sklaverei. Jahrhunderte davon. Kein Jude sei je versklavt worden, sagte er. Und damit machte er mich zum Zionisten. Oh doch, antwortete ich, sie wurden versklavt. In biblischen Zeiten, entgegnete er. Das zählt nicht. Wie lange darf es her sein, damit es noch zählt?, fragte ich. Ja, wie lange? Wann ist das Vergangene vorbei? Niemals vielleicht. Aber was hatte das mit uns beiden zu tun – mit diesem Mann und mir? Nichts. Wir mussten im Jetzt leben, in der Gegenwart. Aber wir kamen einfach nicht dorthin.«
Ich legte ihm die Hand auf die Schulter, spürte wie knochig sie war unter dem dünnen Krankenhaushemd. Die Hand wollte sagen:
Weitere Kostenlose Bücher