Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
Vom Netzwerk:
Hör auf. Das musst du nicht tun. Aber Pa verstand es als Ansporn.
    »Deine Mutter schwieg. Ließ zu, dass alles ans Licht gezerrt wurde. Ihr Vater und ich redeten ja auch genug für die ganze Menschheit. Er ... sah mich als Vertreter des Mördervolks. Ich ... führte dagegen meine Familie an. Meine Eltern, meine Schwester in den Verbrennungsöfen. Ich nahm sie als Beleg. Für etwas. Für den Hass, der mir widerfahren war. Hass auf etwas, das ich überhaupt nicht war.«
    »Das verstehe ich, Pa.« Ich hätte alles getan, um die Büchse der Pandora, die ich da geöffnet hatte, wieder zu verschließen.
    »Schließlich ging William, aber er gab uns zu verstehen, wir hätten ihn vertrieben. Er sagte, wir wollten nicht, dass ihr zwei eure Familie in Philadelphia seht. ›Wenn die beiden nicht schwarz sein sollen, können sie auch keine schwarze Familie haben.‹ Das machte eure Mutter wütend. Sie sagte Dinge, die sie besser nicht gesagt hätte. Alles, was ihr Vater ihr je beigebracht hatte, alles, woran er glaubte ... Aber das hatten wir ja nie gesagt. Wir hatten nie gesagt, dass ihr nicht schwarz sein werdet. Nur dass ihr ihr selbst werden solltet: Dass es am Anfang offen sein soll. Dass es eine Entwicklung sein sollte, kein Zustand. Diesen Gedanken nannte er ›Weißfärberei‹.«
    »Und dafür ein Vierteljahrhundert? Man bricht doch nicht wegen einem einzigen Abend allen Kontakt ab. Wegen ein paar bösen Worten. In jeder Familie gibt es Streit. Alle sagen manchmal Dinge, die sie später bereuen.«
    »Deine Mutter und ich, wir beide, wir kannten die Zukunft. Eure Zukunft hatte zu uns gesprochen. Hatte uns ja überhaupt erst Mut gemacht! Und hatte uns vor die Wahl gestellt. Wir dachten, wir wüssten, wie das Leben für euch würde. Aber euer Großvater ...« Seine Miene verfinsterte sich. Informationen fehlten, verschwanden, Briefe ungeöffnet, ungeschrieben. »Euer Opapa sah nicht, was wir sahen.«
    Es gab etwas, das stärker war als die Familie, leidenschaftlicher als die Liebe, schlimmer als alle Vernunft. Groß genug, sie alle in Stücke zu reißen. Das war es, was mein ganzes Leben bestimmt hatte. Das war die Macht, deren Krankenschwestern mich nicht an das Sterbebett dieses Mannes lassen wollten, weil es nicht sein konnte, dass ich sein Sohn war. Und trotzdem wusste ich noch immer nicht, was dieses Etwas von uns wollte und wie es so stark geworden war. »Und das war alles, Pa? Der Streit eines einzigen Abends genügte für so viel Unversöhnlichkeit? Einmal hitzige Reden, und dafür haben wir – hat Mama ihre Eltern nie wiedergesehen?«
    »Ja weißt du, das ist eine seltsame Sache. Ich war gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass dieser Abend ein Bruch für immer sein könnte. Und William auch nicht. Lange Zeit glaubte ich, er werde kommen, wir müssten nur abwarten, er werde einsehen, dass er uns Unrecht getan hatte. Aber wahrscheinlich wartete er genauso auf uns. Und während wir warteten, machte sich hier wie dort die Selbstgerechtigkeit breit.« Er schloss die Augen, dachte nach. »Und auch Scham. Uns selbst konnten wir nicht finden. Keiner hatte den Mut, zum anderen hinzugehen. Solche Macht hat unsere Herkunft über uns. Und dann, nachdem eure Mutter tot war ...« Wieder legte ich ihm die Hand auf die Schulter. Aber er war ja längst verurteilt. »Nachdem eure Mutter tot war, war es unmöglich geworden. Die letzte Chance vertan. Ich schämte mich zu sehr, ich konnte diesen Mann nicht um Verzeihung bitten. Natürlich habe ich sie benachrichtigt. Aber ich dachte ... ich lebte ja in der Furcht, dass sie meinetwegen gestorben war. Dass ich schuld an ihrem Tod war.«
    Unmöglich –, hätte ich gerufen, wäre da nicht seine eigene Tochter gewesen, die genau das Gleiche gesagt hatte. Ich konnte ihn weder verurteilen noch freisprechen. Aber etwas konnte ich noch tun. »Pa? Ich könnte sie ... finden. Jetzt. Ich könnte es ihnen sagen.«
    »Was sagen?« Dann begriff er, was ich ihm vorschlug. Er ließ den Kopf ins Kissen sinken. All seine Forschungen über die Zeit hatten ihn zu der Erkenntnis geführt, dass es nur die Wahrnehmung war, die Dinge in Zukunft und Vergangenheit schied. Seine Augen blitzten, als wäre seine Familie schon hier in diesem grünen Zimmer um ihn versammelt, als wären alle falschen Weltlinien neu gezeichnet. Dann zuckten seine Lippen, die Wangen fielen ein, er wurde bleich, fast schon ein Toter. Er schüttelte den Kopf. Und mit diesem Kopfschütteln warf er die letzte Leine los, mit der er

Weitere Kostenlose Bücher