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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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weniger für mich. »Du machst das prima, Joseph. Alles vernünftige Entscheidungen.« Mit jedem Schritt leistete sie praktische Hilfe für den Erben einer Familie, die der eingeschworene Feind jedes Sinns für das Praktische gewesen war. Sie war bei mir, tröstete mich über die Millionen Tode, die jede Entscheidung forderte, die Strafe für den Überlebenden.
    Als ich die wichtigsten Entscheidungen gefällt, alles nicht Umkehrbare in die Wege geleitet hatte, meldete sich Jonah. Seine Telefonstimme kam durch das Rauschen, ein zeitversetztes Echo. »Joey. Ich habe gerade erst deine Nachricht bekommen. Ich war unterwegs. Ich .. bin nicht mehr bei dem alten Management.«
    »Lieber Himmel, Jonah. Wo zum Teufel hast du gesteckt?«
    »Nicht böse sein, Joey. Ich bin in Italien. Ich habe an der Scala gesungen.«
    Die eine Nachricht, die Pas Tod aufwiegen konnte: Mein Bruder hatte nicht aufgegeben, er hatte erreicht wofür unsere Eltern uns aufgezogen hatten. »Ehrlich? La Scala? Als was?«
    »Ach ... das ist doch nicht wichtig, Joey. Nichts Großes. Sag, wie geht es Pa?«
    Erst da begriff ich. Jonah wusste es nicht. Ich war mir sicher gewesen, er würde es spüren, in seinem Inneren, wie ein Zugvogel. Er hätte es wissen müssen, in dem Augenblick in dem es geschah. »Er ist gestorben. Mittwoch vor einer Woche.«
    Für lange Zeit hörte man nur Atmen und das Rauschen des Transatlantikkabels. In einem Schweigen so lang wie ein Grabgesang rekapitulierte Jonah ein Leben. »Gott, Joey. Verzeih mir.« Als sei es geschehen, weil er uns verlassen hatte.
    Selbst am Telefon hörte ich, wie ihm die Luft ausging, wie einer seiner Erstickungsanfälle kam. Er wollte verhindern, was doch schon geschehen war. Als er wieder sprechen konnte, fragte er nach Einzelheiten, all den Nicht-reignissen von Pas letzten Tagen. Er wollte jedes Wort hören, das unser Vater gesagt hatte. Jeden kleinen Schnipsel, den Pa vielleicht für ihn hinterlassen hatte. Aber ich hatte nichts. »Er hat .. ich musste ihm versprechen, dass ich Ruth eine Botschaft übermittle.«
    »Was war es?«
    »Er sagte: ›An jedem Punkt, auf den man das Teleskop richtet, findet man eine neue Wellenlängen«
    »Was zum Teufel soll das heißen, Joey?«
    »Es .. hatte mit seiner Arbeit zu tun, glaube ich. Er hat bis zuletzt gearbeitet. Es half ihm ein wenig.«
    »Wieso Ruth? Was kann sie denn mit so etwas ...« Wieder hatte sie ihn verraten, hatte ihm Pas letzte Botschaft gestohlen.
    »Jonah. Ich habe keine Ahnung. Er war so krank, so voller Schmerzmittel, er war schon fort, lange bevor er ging.«
    »Ist Ruth da?«
    Ich erzählte ihm, dass ich seit ihrem unverhofften Besuch nichts mehr von ihr gehört hatte. Er hörte zu, sagte aber nichts.
    »Was hast du mit der Leiche gemacht?« Als wäre es ein Mord gewesen.
    Ich berichtete ihm von all den Entscheidungen, die ich gefällt hatte. Er sagte nichts. Sein Schweigen war wie ein Tadel. »Was hätte ich denn anderes tun sollen? Du hattest uns schließlich im Stich gelassen. Du lässt mich allein mit all diesen Sachen, und dann willst du –«
    »Joey. Joey. Du hast das wunderbar gemacht. Perfekt.« Jetzt kam die Trauer, Stakkato-Schluchzer. Es hörte sich beinahe wie Lachen an. Etwas war von ihm gegangen, und es würde ihm für den Rest seines Lebens fehlen. »Willst du dass ich zurückkomme?« Er fragte es so leise, es war kaum zu verstehen. »Soll ich?«
    »Nein, Jonah.« Ich hätte mir nichts sehnlicher gewünscht. Aber bitten wollte ich ihn nicht.
    »Ich könnte nächste Woche da sein.«
    »Das brauchst du jetzt nicht mehr. Alles erledigt. Vorbei.«
    »Du brauchst keine Hilfe? Was machst du mit dem Haus?« Dem Haus in Jersey, von dem Pa sich ausgemalt hatte, es könne auch unser Zu-hause sein, in einem anderen Universum.
    »Es gibt ein Testament. Die Mehrheit der Kinder soll entscheiden.«
    Er rang mit etwas. »Was möchtest du?«
    »Verkaufen.«
    »Selbstverständlich. Unbedingt.«
    Unser Vater war bei diesem Telefonat mit dabei. Pa wollte, dass ich frage. Selbst jetzt wollte er es noch wissen. »Was hast du gesungen, an der Scala?«
    Wieder herrschte Schweigen. Er fand, dass ich zu schnell zu den Lebenden zurückgekehrt war. Aber ich war der Einzige, den Jonah jetzt noch hatte. Mich und Ruth, von der wir beide nicht wussten, wo sie war.
    »Joey, das wirst du nie glauben. Ich habe unter Monera gesungen.«
    Der Name kam aus so großer Ferne, ich war mir sicher, dass auch das alles längst tot sein musste. »Meine Güte. Wusste er,

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