Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
Vom Netzwerk:
schon zu etwas überredet hat oder von etwas abbringen will.
    »Diese Familie ist nicht fair«, sagt Jonah. »Das ist keine echte Demokratie!«
    »O doch, das ist sie«, versichert uns Pa. Oder vielleicht auch Mama. »Aber die Stimmen der Großen zählen doppelt.«
    Einer bringt den Satz zu Ende, den der andere angefangen hat, einer greift die Melodie des anderen auf. Manchmal summen sie laut beim Frühstück oder bei der Hausarbeit und landen beide genau an derselben Stelle, selbst wenn beide die Melodie schon seit Wochen nicht mehr gesungen haben. Spontaner Einklang. Im selben Tempo, derselben Ton-art.
    Ich frage Pa: »Von wo kommen wir denn nun – aus Deutschland oder aus Philadelphia? Was haben wir für eine Sprache gesprochen, bevor wir Englisch lernten?«
    Er blickt mich forschend an, will herausfinden, was ich wirklich frage. »Wir kommen aus Afrika«, sagt er. »Wir kommen aus Europa. Wir kommen aus Asien, denn eigentlich liegt Russland in Asien. Wir kom-men aus dem Nahen Osten, wo die ältesten Völker herstammen.«
    Aber da widerspricht Mama. »Kann sein, dass sie da ihr Sommerhäus-chen hatten, Schatz.«
    Zehn Namen kenne ich: Max, William, Rebecca, Nettie, Hannah, Charles, Michael, Vihar, Lucille, Lorene. Ich sehe Familienfotos, wenn auch wenige. An unglücklichen Abenden, wenn Ruth krank ist oder Mama und Pa sich nicht verstehen, sende ich Botschaften an diese Namen.
    Jonah fragt: »Welche Farbe hatte Adam?« Er grinst, denn er weiß, dass er mit der Frage gegen die Regeln verstößt.
    Mama sieht ihn ärgerlich an. Aber Pa strahlt. »Das ist eine ausgezeichnete Frage! Wie viele gibt es schon, auf die Religion und Wissenschaft genau die gleiche Antwort geben? Alle Völker der Erde müssen gemeinsame Vorfahren haben. Wir brauchten nur ein besseres Gedächtnis.«
    »Oder ein schlechteres«, sagt Mama.
    »Stellt euch das vor! Ein einziger Ort, von dem wir alle herstammen.«
    »Außer ein paar Hengsten, die im Neandertal über den Zaun gesprungen sind.«
    Pa wird rot, und wir Jungen lachen, auch wenn wir keine Ahnung haben, was diese Alberei soll. »Noch vorher, meine ich. Der Ursprung.«
    Mama zuckt mit den Schultern. »Vielleicht kam der Erste durchs Fens-ter geflogen. Von irgendwo draußen.«
    »Ja«, sagt Pa nachdenklich. »Womöglich hast du Recht!« Mama lacht, stößt ihm in die Rippen. »Doch, ehrlich! Das ist wahrscheinlicher, als dass wir von hier stammen. Überleg doch, wie jung die Erde ist und wie groß die Welt draußen!«
    Mama schüttelt den Kopf, verzieht die Miene. »Tja, Kinder. Euer Vater und ich sind da gerade auf etwas gekommen. Adam und Eva waren klein und grün.«
    Wir Jungen lachen. Unsere Eltern sind übergeschnappt. Sie reden puren Unsinn. Wir verstehen kein Wort. Aber Jonah bekommt doch etwas mit und ich nicht. Er ist schneller, mit dem Vorsprung, den er hat. »Marsmenschen ?«
    Meine Mutter nickt ernsthaft, unser großes Geheimnis: »Wir sind allesamt Marsmenschen.«
    Alle Völker dieser Welt: Wir kennen sie aus dem Geographie–, aus dem Geschichtsunterricht. Zehntausende von Stämmen, und kein einziger davon ist unserer. »Wir gehören nirgendwo dazu«, sage ich meinen Eltern eines Abends, als sie uns zu Bett bringen. Ich will, dass sie das wissen. Und dann will ich sie beschützen.
    »Wir gehören zu uns«, sagt Pa. Monat für Monat schickt er Briefe nach Europa. Nachforschungen. Das macht er schon seit Jahren.
    »Ihr seid den anderen voraus«, fügt Mama hinzu. »Wartet's nur ab, eines Tages ist die ganze Welt wie ihr.« Wir denken uns eine Nationalhymne aus, ganz aus Takten, die wir aus anderen Hymnen stehlen.
    »Glauben wir an Gott?«, frage ich.
    Und sie sagen: »Ein jeder Junge glaube auf seine Weise.« Oder etwas in dieser Art, genauso unnütz, genauso unmöglich.
    Meine Mutter singt in der Kirche. Manchmal nimmt sie uns mit; Pa ist nie dabei. Sie singt Sachen, die sie kennt, aber wir nicht. »Von wo kommen die Lieder?«, fragt Jonah.
    »Von da, woher alle Lieder kommen.«
    Schon damals nimmt Jonah ihr das nicht ab. »Und wohin gehen sie?«
    »Ah!«, sagt sie. »Immer zurück zum Do.«
    Wir stehen neben ihr in der Bankreihe, haben die Hände an ihre Hüften gedrückt und spüren durch das Kleid hindurch, wie der Körper vom Singen vibriert, die Noten, die mit solcher Kraft und Klarheit hervorkommen, dass Leute sich unwillkürlich umdrehen und sehen wollen, wer da singt. Wir gehen in Kirchen, in denen alle tun, als merkten sie es gar nicht. Wir gehen in andere, in denen

Weitere Kostenlose Bücher