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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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dumpf, ohne Ton, ohne Farbe. Hätte diese Frau ein Messer gehabt, dann hätte sie zugestochen. Aber schließlich beruhigte Teresa sich wieder. Die Macht der Zeit. Pa hatte es mir einmal erklärt. Zeit ist das, woran wir erkennen, in welche Richtung die Welt unterwegs ist: immer nur abwärts, von wilder Jagd zur letzten Erschöpfung.
    Wir kehrten nach Atlantic City zurück, auch wenn das, was uns antrieb, nicht mehr ganz unser freier Wille war. Wir blieben zusammen, aber in einer Art Totenstarre. Die gescheiterten Hochzeitspläne kamen nie wieder auf, außer in unseren Gedanken, und da jede Minute, die wir uns sahen. Die Zeit tat ihre Wirkung. Nach zwei weiteren Monaten Talfahrt rief mein Bruder an. Teresa war am Apparat. Aus der Verzögerung, nachdem sie sich gemeldet hatte, dem elektrisch bedingten Warten, wusste ich, dass er es war. Ihre Hand mit dem Hörer zitterte aufgeregt. Ja, da sei Teresa, die Teresa, und ja, sie wisse, wer er sei – wo er sei, alles über ihn –, und ja, sein Bruder sei da, und ja, aber nein, doch, und sie kicherte, auf Anhieb verführt von dem, was er an leichtfertigem Flirt ins Mikrophon hauchen mochte. Sie reichte mir den Hörer, so zärtlich, wie sie seit unserem fatalen Ausflug nach New York nicht mehr gewesen war.
    »Sie hat eine hübsche Stimme, Muli. Singt ihr miteinander?«
    »Etwas in der Art.«
    »Wie hoch ist ihre höchste Note?«
    »Jonah, wie geht es dir?«
    »Bist du sicher, dass sie Polin ist? Sie klingt überhaupt nicht polnisch. Wie sieht sie aus?«
    »Mal es dir selber aus. Was macht Celeste?«
    »Die mag Belgien leider gar nicht, fürchte ich. Für sie sind das alles Barbaren hier.«
    »Und stimmt das?«
    »Na ja, sie essen Pommes frites zu ihren Muscheln. Aber dafür singen sie vom Blatt, als hätten sie es in der Wiege gelernt. Du musst herkommen und es dir selber ansehen.«
    »Wann immer du willst. Hast du ein Ticket für mich?«
    »Jawoll. Wann kannst du los?« Es folgte ein langes rallentando, wie in einem spätromantischen Lied, genau das, was wir gemeinsam immer so mühelos hinbekommen hatten. Gedankenlesen in beide Richtungen, mit vorgehaltener Pistole, zwei bewegliche Ziele. Es funktionierte noch immer. »Wir brauchen dich hier, Muli.«
    »Weißt du, was du da verlangst? Du hast ja keine Ahnung. Ich habe schon seit Jahren nichts Anständiges mehr gespielt.« Zu spät blickte ich auf zu Teresa, die mit dem Kaffeetopf hantierte. Sie sah mich entgeistert an. »Nichts Klassisches, meine ich.«
    »Im Gegenteil, Bruder. Du weißt nicht, was ich verlange. Pianisten gibt's hier an jeder Straßenecke; sie verkaufen Bleistifte, damit sie über die Runden kommen. Oder stehen Schlange beim Arbeitsamt. Wenn wir nur einen Klavierspieler brauchten, würde ich nicht anrufen.«
    »Jonah. Sag mir einfach, was du willst. Kurz und schmerzlos.«
    »Ich gründe eine A-cappella-Gruppe. Ich habe zwei hohe Stimmen, so schön, dass du vor Scham vergehen wirst. Polyphonie der Gotik und der Renaissance. Nichts später als 1610.«
    Ich lachte laut. »Und was soll ich dabei? Braucht ihr mich als Buchhalter?«
    »O nein. Dafür stellen wir einen echten Ganoven an. Dich brauchen wir als Bass.«
    »Du machst Witze. Wann habe ich das letzte Mal ernsthaft gesungen? Meine letzte Gesangstunde, das war noch auf der Schule.«
    »Eben. Jeder andere, den ich gehört habe, ist durch Ausbildung verdorben. Du hast wenigstens nichts, was wir dir erst wieder austreiben müssen. Ich unterrichte dich.«
    »Jonah. Du weißt doch, dass ich nicht singen kann.«
    »Wer spricht denn von Singen, Muli? Es ist nur der Bass.«
    Er erläuterte es mir. Er war auf der Suche nach einem vollkommen neuen Stil, so alt, dass er aus dem allgemeinen Gedächtnis verschwunden war. Noch wusste keiner, wie diese Sachen überhaupt zu singen waren; sie improvisierten alle. Sangeskunst war ein alter Hut – Vibrato, Tonstärke, Schmelz, gelackter Glanz, das ganze Arsenal von Tricks, mit denen man einen riesigen Konzertsaal füllte oder ein ganzes Orchester übertönte, all das musste verschwinden. Und an die frei gewordene Stelle mussten Helligkeit, Klarheit, Exaktheit treten, Engel, die auf Nadelspitzen balancierten.
    »Das Ende des Imperialismus, Muli. Wir kehren zurück in eine Welt, wie sie vor dem neunzehnten Jahrhundert war. Wir lernen zu singen wie alte Instrumente. Stimmen für die Gedanken Gottes.«
    »Du wirst doch jetzt nicht auch noch fromm?«
    Er lachte und sang »Gimme that old-time religion«. Aber er sang es in einem

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