Der Klang der Zeit
den Ellbogen in die andere, das Bild eines Denkers. Schon jetzt ist es geradezu unheimlich, wie sie bestimmte Haltungen und Posen nachmachen kann, wie sie sich Äußerlichkeiten aneignet, als verstünde sie sie. »Oder wartet, es ist ... ja!« Der Finger schießt in die Höhe, ihr Nicken ein Heureka. »Sechsundsiebzig drei viertel Ruths. Die erste Ruthie dürfen wir nicht mitzählen.«
»Wie viele Mamas?«
Pa muss nicht einmal rechnen. »Etwas über elf.«
Mama sieht ihn böse an. Er will sie umarmen, aber sie schubst ihn fort. ›Fast zwölf!«
Das verstehe ich nicht. »Wie alt ist Mama?«
»Achteinhalb Hundertstel von diesem Lied.«
»Und du? Wie viele Hundertstel?«
»Ah! Das ist eine andere Frage. Ich habe euch nie gesagt, wie alt euer alter Herr ist, nicht wahr?« Er hat es uns schon eine Million mal erzählt. Er ist null Jahre alt, er ist alterslos. Er ist 1911 in Straßburg zur Welt ge-kommen, damals Deutschland, heute Frankreich, an dem Tag, der da-mals der 10. März war, doch in den Stunden, die für immer verschwan-den, als das Elsass kapitulierte und schließlich seine Uhren nach Green-wich ausrichtete. Das ist die Legende, die sich um seine Geburt rankt, das Geheimnis seiner Existenz. So geriet er schon als kleiner Junge in die Fänge der Zeit.
»Nicht mal neun«, ärgert ihn Mama. »Euer alter Herr ist ein alter Herr. Nur neun von den langen Leben eures Vaters, und ihr wäret wieder zurück bei Dowland!«
Meine Eltern kommen aus verschiedenen Zeiten.
»Nein«, widerspricht mein Vater. »Durch null darf man nicht dividieren!«
Ich frage nicht, wie viele Jonahs das wären, wie viele Joes.
»Jetzt aber genug mit diesen Dummheiten.« Mama ist die absolute Herrscherin über alle amerikanischen Stroms, jetzt und für alle Zeit. »Wer hat nur die ganze Mathematik ins Haus gelassen ? Lasst uns lieber sehen, dass wir mit dem Zählen vorankommen.«
Steh still und schau, Minute, Stund und Jahr, sie schwindet nicht. Unser Vater entdeckt, dass die Zeit keine Schnur ist, sondern eine Reihe von Knoten. So singen wir. Nicht geradlinig, sondern wir kehren immer wieder in Schleifen zu uns zurück; wir finden die Harmonien zu Passagen, die wir zuvor gesungen haben, die Begleitmusik zu Abenden, an denen wir erst noch singen werden. Das ist der Abend – oder könnte es gewesen sein –, an dem Jonah die geheime Sprache der Harmonie entschlüsselt und das elterliche Spiel der improvisierten Zitate erlernt. Mama beginnt mit Haydn; Pa steuert seine verrückten Verdi-Variationen bei. Der Fisch und der Vogel auf Wohnungssuche polstern ihr Nest aus mit allem, was passt. Dann Jonah, der aus dem Blauen heraus ohne eine falsche Note Josquins Absalon, fili mi anstimmt. Und für dieses Kunst-stück in so zartem Alter erntet er von meinen Eltern einen Blick, so er-schrocken, wie wir ihn ängstlicher selbst bei einem Fremden nie gesehen haben.
Und dann, später, als Einstein zu unserem musikalischen Abend kommt und mit den anderen musizierenden Physikern seine Geige spielt, muss er meinen Eltern nur einen einzigen kleinen Schubs geben, und schon können sie nicht anders und schicken ihren Jungen fort.
»Das Kind ist begabt. Sie hören gar nicht, wie begabt es ist. Sie sind zu nahe daran. Es ist unverzeihlich, dass Sie nichts für ihn tun.«
Das Nichts, das meine Mutter ihm gegeben hat, ist ihr Leben. Das ist ihre unverzeihliche Sünde: der immer gleiche Rhythmus der Liebe. »Das Kind ist begabt.« Und was glaubt dieser Mann mit der weißen Mähne, woher es die Begabung hat? Jeden Tag hat sie diese Begabung gefördert und hat alles dafür gegeben. Sie vernachlässigt ihre eigene Kunst, ihr eigenes Wachstum, ihre Karriere. Aber auch das ist Schwarzsein : Eine Welt voller Weißer, für die alles, was man macht, nicht gut genug ist, egal, was es ist. Verkauft euren Jungen in die Sicherheit, schickt ihn fort, lasst ihn fliegen, seine Meisterschaft entwickeln, bringt ihn über diesen Fluss, egal wie. Und sie sagen nie, was das für ein Land ist, in das wir ihn schicken, dort am anderen Ufer des Flusses.
Vielleicht stirbt sie, ohne die Entscheidung je infrage zu stellen. Vielleicht denkt sie bis zuletzt, die Begabung des Jungen habe ihr keine andere Wahl gelassen. Glaubt an die Pflicht, die ihr die Schönheit auferlegt, ein williges Opfer der hohen Kultur. Vielleicht stirbt sie und weiß gar nicht, dass es keine bessere Schule gibt als ihre. Denn hier steht ihr Sohn, ihr Ältester,
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