Der Klang der Zeit
jeder geht ja sein Leben lang zur Schule. Wenn Pa nach Hause kommt, spielen wir noch mehr Schule, sogar beim Essen und bis in den Abend hinein, und zum Ab-schluss des Tages singen wir dann alle zusammen. Lieder über Tiere und Pflanzen, über die amerikanischen Präsidenten, über Bundesstaaten und Hauptstädte; mit Rhythmus und Metrum lernen wir Bruchrechnung, mit Akkorden und Intervallen Zeitgefühl. Experimente mit vibrierenden Saiten bringen uns die Naturwissenschaft nahe. Wir lernen Vögel an ihren Rufen erkennen, Länder an ihren Nationalhymnen. Aus Arien lernen wir unsere ersten Worte Deutsch, Französisch, Italienisch. Ein Lied für alles und alles ein Lied.
Wir gehen ins Museum, in den Park, sammeln Blätter und Insekten. Wir machen Aufgaben, füllen Fragebögen auf verschmiertem Zeitungs papier aus – Tests, erklärt uns Mama, die der Staat fordert, zum Beweis, dass wir in unserer Schule genauso viel lernen wie andere Jungs in ihrer. Jonah und ich erledigen sie im Eiltempo, ein Wettbewerb, wer den ganzen Bogen in kürzerer Zeit beantwortet hat. Aber Mama ermahnt uns, »Beim Laufen hilft es nicht, schnell zu sein«, und lässt uns noch einmal von vorn beginnen.
Das Leben wäre ein Vorgeschmack aufs Paradies, wenn es immer so wäre. Aber das ist es nicht. Wenn die anderen Jungen in unserer Straße aus der Schule nach Hause kommen, schickt Mama uns hinaus zum Spielen – »mindestens eine Stunde«. Die anderen haben immer etwas an uns auszusetzen, etwas, wofür wir immer neue Strafen verdienen. Sie verbinden uns die Augen und schlagen mit Stöcken auf uns ein. Sie nehmen uns als Zielscheibe. Jonah ist so klein, er brauchte gar nicht erst versuchen sich zu wehren. Wir verstecken uns in finsteren Gassen, erfinden etwas, was wir hinterher Mama erzählen, und singen die ganze Stunde über lustige Kanons voller Dissonanzen, so leise, dass unsere Peiniger uns nicht hören.
Mama hat immer eine Antwort auf die Welt. Wenn wir zusammen unterwegs sind, beim Zahnarzt, im Kaufladen oder in der Untergrundbahn, und jemand sagt etwas oder wirft uns böse Blicke zu, erklärt sie uns: »Die wissen ja gar nicht, wer wir sind. Die halten uns für jemand anderen. Die Leute sitzen alle in einem undichten Boot«, sagt Mama, »und haben Angst, dass es untergeht.« Und auch auf diese Angst hat sie eine Antwort. »Singt besser«, sagt sie. »Singt mehr.«
»Die Leute hassen uns«, sage ich zu ihr.
»Nicht euch, Jojo. Sie hassen sich selbst.«
»Weil wir anders sind«, erkläre ich ihr.
»Vielleicht haben sie gar keine Furcht vor dem anderen. Vielleicht fürchten sie sich, weil ihr genauso seid wie sie. Wenn sich herausstellte, dass wir gar nicht anders sind, was bliebe dann noch für sie?« Darüber denke ich nach, aber sie erwartet keine Antwort. Sie legt uns beiden die Hand auf den Kopf. »Leute, die euch etwas verbieten wollen, haben Angst, dass ihr das Verbotene schon habt.«
»Und warum wäre das so schlimm?«
»Sie stellen sich alles Gute am Menschen wie eine Sache vor, die man besitzt. Wenn ihr mehr davon bekommt, dann bekommen sie weniger. Aber das ist Unsinn, Jojo. Man kann jederzeit mehr Schönheit schaffen. Jeder kann das. Man muss nur wollen.«
Monate später: »Was tun wir, wenn sie uns schlagen?«
»Ihr habt eine bessere Waffe als jeder andere.« Mehr braucht sie nicht zu sagen, so oft haben wir es schon gehört. Die Kraft eures Gesanges. Ich widerspreche nicht. Ich mache mir gar nicht mehr die Mühe zu sagen, dass ich nicht weiß, was sie damit meint.
Einmal komme ich nach Hause, mein oberer rechter Eckzahn ist von einem drei Jahre älteren Jungen ausgeschlagen. Ich sage meiner Mutter nichts. Sie würde sich nur grämen. Als sie die neue Lücke sieht, ruft sie: »Wie schnell du groß wirst, Jojo! Bald bist du ein Mann!« Aber es dauert Wochen, bis der neue Zahn kommt. Ich lächle sie an, bei jeder Gelegenheit. Einmal wendet sie den Blick ab, weint über den zahnlosen Knaben, der noch treuherzig dazu grinst. Ich brauche fünfzig Jahre, bis ich diese Tränen verstehe.
Warum müssen wir überhaupt nach draußen? Das wollen wir Jungen wissen. Warum können wir nicht drinbleiben und lesen, Radio hören, Flohhüpfen spielen oder im Keller seilspringen, wie Joe Louis? Meine Eltern lesen immer gegenseitig ihre Gedanken. Auf all diese Fragen geben sie dieselben Antworten. Sie üben es vorher. Sie wissen es, wenn der andere einen von uns
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